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Osnabrück

Wer ist schuld, wenn Radfahrer auf dem Gehweg fahren?

In der Neuen Osnabrücker Zeitung wurde in der vergangenen Woche ein Leserbrief veröffentlicht, in dem ein nachdrückliches Einschreiten „gegen diese Dreistigkeit der Radfahrer“ gefordert wird, weil sonst „die Bekämpfung immer erfolgloser werden“ würde. Mit Bekämpfung ist in erster Linie das Gehwegradeln zwischen Berliner Platz und Neumarkt gemeint. Ausgangspunkt für den Leserbrief war ein Artikel zu Radfahrern, die in einer Baustelle an der Johannisstraße nicht absteigen und so Fußgänger gefährden. Das bedarf keiner weiteren Kommentierung. Hier müssen Radfahrer absteigen. Da gibt es keine zwei Meinungen.

Besonders schlimm ist es zwischen Berliner Platz und Neumarkt. Dort nutzen viele Radfahrer die Bürgersteige ganz ungeniert, und zwar egal in welche Richtung. (…) Es sollte daher auch in diesem Bereich öfters eine Kontrolle erfolgen. Diese sollte auch ruhig einhergehen mit der Verhängung von Geldbußen, damit dann auch über solche Maßnahmen den Radfahrern Ernsthaftigkeit der Beseitigung dieses rücksichtlosen Übels vor Augen geführt wird. – Leserbrief

Interessanter ist aber das Gehwegradeln auf dem anderen genannten Abschnitt. Dafür gibt es aus Sicht der Radfahrer nämlich gute Gründe. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, diesen Abschnitt und auch den weiteren Verlauf auf der anderen Seite des Neumarktes zu dokumentieren. (Wohlgemerkt am extrem verkehrsarmen Tag der Deutschen Einheit. Man muss sich hier jetzt noch Autokolonnen, Falschparker und Busse dazu denken.) Man muss diese Wege selbst gefahren sein, um den Kern des Problems zu erkennen. Dieser liegt nämlich nicht bei den Radfahrern an sich, sondern in der Infrastruktur, die man ihnen zumutet.

Aus Richtung Berliner Platz kommend (das ist gleich die angesprochende Stelle vor der Sparkasse) wird man auf einen sehr kurzen Hochbordradweg geführt und wenige Meter später wieder runter auf einen Radfahrstreifen, der dann in eine Bushaltestelle mündet. Dass sich das viele Radfahrer nicht trauen, sollte nachvollziehbar sein. Insofern wählen sie den für sie sicheren Gehweg. Was nicht richtig ist, aber eben verständlich.

Hinter der Bushaltestelle geht es weiter zwischen Geradeaus- und Abbiegespur. Dieselbe Situation gleich hinter der Ampel. Was dann kommt kann man gar nicht so recht kategorisieren, weil es sich ständig ändert. Die Baustelle am Neumarkt wird immer wieder verlegt, anders gestaltet – so auch die Radverkehrsführung. Mal ist ein Radfahrstreifen da (wie aktuell mit dem Hinweis, dass er verengt ist), mal gibt es keinen. Dazu noch die Busse, die ständig in die Haltestellen ein- und ausfahren.

Hinter der nächsten Kreuzung geht es für Radfahrer rauf auf einen gemeinsamen Geh- und Radweg, den sie sich eben mit Fußgängern teilen MÜSSEN. Als weiterer Konfliktpunkt liegt der Wartebereich einer Bushaltestelle auf dem Weg. Dieser endet dann an der Ecke Am Struckmannshof, wo Radfahrer per Schild gebeten werden, rechts abzubiegen, weil man ihnen geradeaus keinen eigenen Weg geben mag. So sieht die eine Richtung aus.

Auf dem Rückweg auf der anderen Seite wird man aus der Martinistraße kommend von einem Radfahrstreifen in die offene Kreuzung entlassen. Auch dahinter gibt es keine Radweg oder Schutzstreifen. Traut man sich auf der rechten Fahrspur zu bleiben? Oder weicht man auf die kurze Busspur aus, von der man sich dann entweder in den fließenden Verkehr einfädeln muss oder wieder zum Gehwegradler wird? Erst vor dem Schloss beginnt seit Kurzem ein Schutzstreifen, der Radfahrer geradeaus Richtung Neumarkt leitet. Auch hier ist es verständlich, dass Radfahrer auf den Gehweg vorm Schloss ausweichen.

Am Neumarkt selbst gibt es wieder temporär einen Radfahrstreifen (der oft zugeparkt ist). Aktuell führt der Radfahrstreifen sogar ziemlich durchgehend weiter bis zum Berliner Platz. Aber zum Teil auch wieder zwischen Geradeaus- und Abbiegespuren sowie Bushaltebuchten. So auch vor dem Gericht, wo Radfahrer anscheind öfter auf dem Gehweg anzutreffen sind. Vor der Post an der Wittekindstraße liegt der Radfahrstreifen dann in der Dooringzone. Dass das eine verordnete Gefahr ist, habe ich kürzlich hier aufgedröselt.

Es ist also immer leicht gesagt, dass Radfahrer machen, was sie wollen und ständig auf Gehwegen fahren. Wenn es aber an bestimmten Stellen tatsächlich so viele Radfahrer sind, dass es einem regelmäßig auffällt, sollte man die Schuld vielleicht nicht nur bei den Radfahrern suchen. Es scheint offensichtlich Gründe dafür zu geben, auf den Gehweg auszuweichen. Ein kurzes Beispiel dafür aus einem anderen Leserbrief in der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 28. September 2018. Die Schreiberin fordert abschließend im Übrigen nicht die Legalisierung des Gehwegradelns, sondern einen sicheren Radweg.

Bei der Lektüre des Artikels lernte ich den für mich neuen Ausdruck ,Schutzstreifen‘. (…) Eine unpassendere Bezeichnung kann es dafür nicht geben. Schutz bieten diese Streifen nämlich so gut wie gar nicht. (…) Wir fahren mit unserer Tochter generell nicht auf diesem ,Schutz‘-Streifen mit dem Fahrrad. Auch wenn der dortige Bürgersteig von Schlaglöchern durchsetzt und total buckelig ist, fühlen wir uns darauf wohler.

Um das Problem zu lösen, muss man sich diese Gründe – alle Gründe – ansehen. Und ich denke, dass diese nur 950 Meter lange Strecke zeigt, wo das Problem liegt. Nichts ist einheitlich, kaum etwas ist mal aus Sicht des Radverkehrs gedacht. Überall wurde Autoplanung betrieben und nachträglich ein bisschen Fahrrad hineingedrückt. Wer sich in diesem ungenügenden Zustand nicht sicher fühlt, der fährt dort nicht – und sucht sich andere Wege. Das muss man verstehen, wenn man an einer ehrlichen Lösung interessiert ist.

11 Antworten auf „Wer ist schuld, wenn Radfahrer auf dem Gehweg fahren?“

Wie chaotisch die Führung dort ist hast du ja schön dargestellt. Dennoch ein paar Anmerkungen:
– Dass die Radfahrer in der Johannisstraße absteigen „müssen“ bezweifel ich mal. Das Radfahren ist in der dortigen Zone generell freigegeben, also dürfen sie dort fahren. Und an der Baustelle steht dann lediglich ein Zusatzschild „Radfahrer absteigen“. Die rechtliche Bedeutung ist sicherlich eine andere, als Verwaltung und Polizei an der Stelle glauben. Oder wie der ADFC Bielefeld schreibt „Das Aufstellen des Schildes „Radfahrer absteigen“, auf gut amtsdeutsch: des Zusatzschildes Nr. 1012-32, ist ohne Kombination mit einem anderen Verkehrszeichen rechtswidrig. „, siehe https://www.adfc-nrw.de/kreisverbaende/kv-bielefeld/adfc-bielefeld/bielefelder-radnachrichten-archiv-2000-2013/ausgabe-32003/runter-vom-rad.html
Aber das macht die Verwaltung an anderen Stellen ja auch, siehe aktuell Augustenburgerstr.
– Die Beschilderung des Radweges vorm Schloß ist so auch falsch und in meinen Augen vermutlich rechtswidrig, da sich das Busschild rechts vom Geh-/Radweg und auch rechts des Schildes befindet. Im Prinzip müssten die Busse dort rechts neben den Radfahrern und Füßgängern fahren.

Ist natürlich beides nicht sinnvoll, zeigt aber eben sehr deutlich wie die Verwaltung hier mit Schildern bzw. verkehrsrechtlichen Anordnungen umgeht. Ob das jetzt Unwillen, Unvermögen oder einfach Desinteresse ist vermag ich nicht zu sagen.
Und solange sich nicht einmal die Verwaltung an Straßenverkehrsordnung und die Verwaltungsvorschriften zur Straßenverkehrsordnung hält finde ich es sehr vermessen, das von Radfahrern zu verlangen.

RoterKreis auf weißem Grund direkt vor der Baustelle, wenn man aus Richtung Rosenplatz kommend zum Neumarkt will.
Eindeutiger geht ein Verbot nicht…

ach, wo genau steht das denn und seit wann? Von der Johannesfreiheit aus, von der Seminarstraße aus und von der Großen Rosenstraße aus war das in den Tagen der NOZ-Berichterstattung definitiv nicht aufgestellt. Wenn die nachgebessert haben um so besser.

Man muss die Liste von dir auch um Aspekte ergänzen wie diese beständige Komunikation von Radfahren als gefährlich, wie es der ADFC-Bundesverband sich ebenso wie manche Radaktivisten auf die Fahne geschrieben haben, wie es die ganzen Helm-Westen-Kampagnen tun etc.

Man sollte auch mal darüber reden, ob es breiten Teilen der Bevölkerung an Grundkompetenzen in Risiko-Abschätzungen fehlt. Wer sich auf subjektive Sicherheit beschränkt, glaubt daran, dass Muslime und Radfahren auf innerörtlichen Fahrbahnen die größten Risiken sind, denen man in Deutschland so ausgesetzt sein kann (“ fühlen wir uns darauf wohler.“).

Es ist eigentlich überall das gleiche Phänomen: Trotz Aufhebung der Benutzungspflicht auf Radwegen fahren in der Regel bis zu 90% der Radfahrenden weiter bevorzugt auf den sonstigen Radwegen statt auf der Straße.

Das ist ein mehr als deutliches Zeichen, dass Rinnsteinradeln in Deutschland weder En Vogue ist, noch dass es mit aufwendigen Kampagnen anerzogen werden kann, die omnipräsente Gefahr durch LKW Busse und PKW auszublenden oder das daraus resultierende Stresslevel herunterzukonditionieren.

Radfahren auf der Straße wird vom Common Sense zurecht als das wahrgenommen was es ist und was es auch bei T30-Fantastereien immer bleiben wird: Ein durch und durch unkalkulierbares Risiko für ungeschützte Verkehrsteilnehmer, oder wie es ein Blogger aus UK schreibt:

„Es ist der Traum vieler deutscher Radaktivisten: In Großbritannien hat man als Radfahrer das Recht, die ganze Straße zu benutzen, genauso wie der Fahrer eines Autos das Recht dazu hat. Sicherlich muss Großbritannien ein wahres Fahrradparadies sein! Bestimmt sind Autos zahlenmäßig unterlegen, es muss noch mehr Fahrräder als in niederländischen Städten geben! Nun, die Antwort ist nein, nicht einmal annähernd.

Fahrradfahren in Großbritannien ist fast ausnahmslos schrecklich. Es gilt als stressig und gefährlich, etwas, das nur wenige fitte, gesunde und leicht exzentrische Menschen tun. Das Konzept des Radfahrens wurde zu einem Extremsport reduziert, über den man in der Regel etwas höhnisch spricht. Es ist schwer zu beschreiben, wie niedrig der Status des Fahrrads als Verkehrsmittel in Großbritannien ist. Radfahren im Alltag existiert fast nicht in den meisten Regionen des Landes.“

Da hätte der Blogger aus UK aber auch mal schreiben können, dass es nicht überall in UK so aussieht.
In der Planstadt Milton Keynes z.B. wurden direkt im Neubau mehr als 200 KM vom Autoverkehr baulich separierte Rad/Fußwege angelegt.
Und?
Alltagsradfahren als ‚Verkehr‘ seit eh und je NAHE NULL, immerhin ein wenig Rekreations-Radeln, mehr spielende Kinder als in Wolfsburg oder LA, ansonsten Autoverkehr, Autoverkehr, Autoverkehr.
Kein Wunder, es gibt dort jede Menge von Rad- und Fußverkehr ‚befreite‘ Fahrbahnen und jede Menge (Auto-)Parkplätze.
https://en.wikipedia.org/wiki/Milton_Keynes#The_Redways:_a_network_of_shared_use_paths

Diese „omnipräsente Gefahr durch LKW Busse und PKW“ gibt es durchaus, wie das Beipiel Münster zeigt.
Die letzten toten Radfahrenden wurden Opfer der der gepriesenen Kombination ’separierte Radinfra + dann ordnungsgemäss bei GRÜN über die Kreuzung fahren‘.
Ich denke aber darüber wurde genug geschrieben, und man landet schnell bei der unseligen Diskussion um den Vorrang einer ’subjektiven Sicherheit‘. Zudem ist das Gefährlichschreiben des recht sicheren Radverkehrs ohnehin nicht zielführend.

Was gern aus dem Blick gerät:
Die breite gut asphaltierte Fahrbahn ist in ihrer baulichen Anlage um Längen sicherer, schneller und komfortabler als all diese notdürftig auf Restflächen zusammengezimmerten Nebenanlagen auf welche Radfahrende im Regelfall gezwungen werden, und welche womöglich noch für etliche Jahrzehnte ‚im Bestand‘ bleiben werden. Selbst die meisten Neubauten von ‚Radwegenetz‘ sind ja in der Regel nicht besser.

Das einzige was uns auf den Fahrbahnen tatsächlich stört ist doch der geheiligte und absurd angestiegene Auto- und LKW Verkehr.
Das belegen auch alle Umfragen unter Radfahrenden:
Haupthindernis ist eindeutig stets der zu stark angewachsene und zu schnelle Autoverkehr.
Da fragt sich doch, warum nicht beherzt versucht wird dieses Haupthindernis endlich mal aus dem Weg zu räumen.

Knoflachers Vision von Fahrbahnen für Radfahrende und für Trams/Busse zusammen mit kleinen (!) Resten des individuellen Autoverkehrs in Größenordnung von 5-10% von heute?
Ich finde nach wie vor, dass das eine gute artgerechte, soziale und ökologisch zukunftsgerechte Planung eines vernunftgeleiteten Verkehrs von Morgen darstellt.
Endlich wieder normale Bedingungen für inklusiven Fußverkehr, zum Flanieren / Verweilen, gut getakteter inklusiver ÖPV, entpannter zügiger und sicherer Radverkehr und insgesamt doch genau DIE Bedingungen, wie sie in den tausenden ökologisch grüngewaschenen Sonntagsreden unserer Planer und Entscheider angeblich angestrebt werden.

Ist halt eine Grundsatzentscheidung: wer das nicht will, sondern lieber weiterhin die Vorrangstellung des MIV unverdrossen in Asphalt giesst, o.k., der/die ist halt im anderen, im automobilen, Lager und freut sich womöglich wie schön es sich doch in den ‚Fahrradländern‘ mit dem Auto fahren lässt.

Taugt ein separiertes Radwegenetz zumindest vorübergehend als ‚Brückentechnologie‘ in eine ökologische Verkehrwende?
Mangels Glaskugel gilt es m.E. erstmal die bestehenden Erfahrungen diesbezüglich (!) auszuwerten.

Grob und noch etwas vorläufig:
1. Wo der Autoverkehr administrativ verboten wurde hat die Verdrängung des Autos und die Rückeroberung des Raumes recht gut funktioniert. Z.B. in Fußgängerzonen und auf dem Großteil der Wanderwege. Auch auf ganzen Inseln (Nordsee) funktioniert das sehr gut, ohne dass die dortige Zivilisation zusammenbrach.
Wo die (unsoziale) Maut eingeführt wurde ging der MIV auch unabhängig von ‚Radinfra‘ zurück.
Mit Zurückdrängung des Automobils haben sich die Bedingungen für den jeweils zugelassenen Umweltverbund nahezu automatisch verbessert(entsprechende Kapazitätsplanung für den ÖPV vorausgesetzt).

2. Wo der Autoverkehr nicht administrativ verboten oder stark und restriktiv reglementiert wurde funktioniert ökologische Verkehrswende in aller Regel überhaupt nicht, völlig gleichgültig ob da Radwege gebaut wurden oder nicht.
Autoverkehr metastasiert in jede Pore; alle bislang vermuteten Sättigungsgrenzen wurden bei weitem überschritten. Der Trend ist ungebrochen, auch im Falle weiter steigenden Radverkehrsanteils.

3. Überall da wo Reisezeitverbesserungen für den Autoverkehr erzielt wurden steigen die gefahrenen Streckenlängen an, was für die Umwelt und das Klima defnitiv fatale Folgen hat. Wo die Reisezeit verschlechtert wurde (seltenst der Fall) sinken die Streckenlängen nach Übergangszeit ab, bzw. wird das Verkehrsmittel bei nächster Gelegenheit (Job, Wohnung, Familienstand, …) gewechselt, falls eine brauchbare (!) schnellere Alternative zur Verfügung steht.

4. Aufbau eines Rad-Separationsnetzes (Radwegenetz) verbessert in den allermeisten Fällen die Reisezeit des MIV, und oft auch die Kapazität für den MIV. Meist werden bei steigendem Radverkehrsanteil nur die ökologisch völlig irrelevanten Kurzstrecken verlagert, wobei dann Kapazitäten ausgerechnet für die längeren Distanzen des MIV freigeschafft werden. Auch die Autobesitzquote geht durch ‚Radinfra‘ in aller Regel NICHT zurück. Durch benutzungspflichtige ‚Radinfra‘ wird die Reisezeit fürs Radfahren in vielen Fällen verschlechtert, wodurch verhindert wird, dass der Erreichbarkeitsradius des Radverkehrs in den ökologisch relevanten Bereich der Mitteldistanzen oberhalb von 5KM vordringt.

Frage: kann die Kombination von 3. und 4. beim Bau von ‚Radinfra‘ überhaupt realistisch vermieden werden?
Wenn ja, wo war das bislang mal der Fall?
NL und DK zeigen exemplarisch, dass Anlage von ‚Radinfra‘ zwar in Einzelfällen die Rad-Reisezeit verbessern kann, was aber NICHT zur Verminderung von MIV-Verkehrsleistung geführt hat. Fehlte, wie exemplarisch beim Hovenring, die synchrone Verschlechterung der MIV-Reisezeit?
Die ‚urbanen‘ Kerne wurden ‚liveable‘ durch Behinderungen des Autoverkehrs (Parken, Umwege/Einbahnen/Sackgassen) autoarm umgestaltet, wobei dann aber die ansteigenden Mieten in den ‚grünen‘ Kernen viele Menschen, wie schon in den 70ern, in die entfrenten Suburbs trieb und treibt (Utrecht im Durchschnitt 16EUR Kaltmiete).
Ja, NL hat steigende MIV-Pendlerdistanzen zu verzeichnen.

Gar nichts zu tun ist m.E. auch keine wirklich gute Lösung, auch wenn dabei immerhin der MIV-Kurzstreckenverkehr das Wachstum der längeren Distanzen tendenziell durch Stau blockiert.
GB, als Beispiel fürs Nichtsmachen, hatte nach meinem Wissensstand (ohne Gewähr, bitte selbst nachrecherchieren) in den letzten Dekaden geringere MIV Verkehrsleistungszuwächse als NL und DK.

Bis auf Weiteres ist m.E. davon auszugehen, dass den unterschiedlichen Maßnahmepaketen divergierende Grundsatzentscheidungen zugrunde liegen:
wer viel Autoverkehr und viel Radverkehr bei beruhigten teuren Innenstädten haben will mag mit ‚Radinfra‘ auf dem richtigen Weg sein, sollte dann aber fairerweise nichts von Ökologie und Klimagerechtigkeit faseln, sondern dazu stehen, dass aus Gründen der eigenen Vorliebe fürs separierte Radfahren autogerechte Radverkehrsförderung besser ist als keine Förderung.

Wer eine ökologische Verkehrswende will mit WENIGER MIV und durchgehend konkurrenzfähigem vollwertigen Umweltverbund wird mit der Lösung ’separate Radinfra‘ nicht glücklich werden und Maßnahmepakete entwickeln müssen, die zugleich ‚push‘ und ‚pull‘ bringen.
Nicht einfach, ziemlich unpopulär, aber aus ökologischer Sicht wohl der einzig gangbare Weg.

Verdrängung der Autos wo immer möglich, Radseparation als zusätzliche wahlfreie Option dort, wo es vorübergehend notwendig ist, wobei frühzeitig für den Erfolgsfall über eine künftige ‚Renaturierung‘ der ‚Radinfra‘ nachgedacht werden sollte!
Reclaim the City! Reclaim the Streets!

Irgendwie muss ich „Wow“ sagen. Meistens denke ich immer: „Jetzt kommen die pro-Radweg und Contra-Radweg Beitrag wieder. Bei beiden nickt man (meistens) mit dem Kopf und ist am Ende nicht schlauer, was den Radverkehr voranbringt.“

Größte Problem an bremst den MIV-Verkehr aus, ist aus meiner Ansicht der hohe Anteil an Autofahrern. Die meisten Bekannten und Freunde sind Autofahrer. Auch ist es schwierig eine Stadt von Maßnahmen gegen MIV zu überzeugen, wenn 70% oder 80% der Menschen (und Wähler) überzeugt mit Auto fahren.

Auch sind gewisse KFZ-Fahrten sind unvermeidbar (oder Alternativen schwer vorstellbar). Daher ist es schwer Freunde, Bekante und Verwaltung von Autofreien Zonen zu überzeugen. Dann heißt es immer, du lässt dich doch auch von Amazon beliefern oder brauchst für die Freizeit mal das Auto. Anlieferungszeiten scheinen mir da aber mehr als ausreichend gut zu sein, dass der Lebensstandart auch für Ausnahmefahrten und Lieferungen erhalten bleibt. Gibt es ja eigentlich auch in jeder Fußgängerzone.

Vielleicht (da bin ich mir aber überhaupt nicht sicher) ist ein Radnetz trotzdem ein Nötiger Zwischenschritt. Erst bringt man die Zahl der ökologischen Fahrten auf über 50% und dann man von der Mehrheit der Fortbewegten Wege argumentieren, dass auch die langen Strecken im Sinne des Volkes ökologisch zurückgelegt werden sollten.

Platzverbrauch für Radwege, kann natürlich auch ein weiteres Argument gegen den platzraubenden MIV sein. Allerdings nur auf bestehenden Straßen.

Zwei Anmerkungen noch die ich von deinem Beitrag gezielt ansprechen will. Der Bezug auf die Britischen Planstädt scheint mir leider keine Ausreichend große Aussagekraft zu haben und nervt mich ein kleines bisschen. Wenn ich Bilder von dem Radnetz sehe, scheint dieses Immer sehr Indirekt zu sein. Mit Autos hat man, nach diesen Bildern, die kürzeren Wege und erreicht jede Straße. Da wäre also meine Vermutung, dass das Radnetz nicht ausreichend direkt und dicht ist.

Selbst wenn der Eindruck täuscht, kann es viele andere Erklärungen geben. Im Wikipediaabschnitt selbst, sind viele Fußgänger genannt und die Brücken- und Tunnelführung bei Kreuzungen. Kein Radwege zu nötigen Nachbarorten, schweres wechseln der Straßenseite, die Mentalität der Engländer oder der Bewohner insbesondere und weiteres sind mögliche Erklärungen, für den Unterschied zu den Niederländischen (langfristig unzureichenden) Zahlen. Die Städte zeigen höchstens, dass ein Radweg ALLEINE nicht ausreicht, um Menschen aufs Fahrrad zu bringen.

Zu deinem Punkt 4 möchte ich auf jeden Fall komplett unabhängige Radinfrastruktur (also nicht Straßenbegleitend) und ausßerörtliche Radinfrastruktur erwähnen. Unabhängige Strecken können Abkürzungen sein, die einem KFZ nicht zur Verfügung steht. Dies beschleunigt wahrscheinlich auch den Autoverkehr, da Radfahrer andre Strecken nehmen und ein paar Autofahrer mal das Rad nehmen.

Außerorts ist meist, sowohl die Fahrbahn, als auch der Radweg mit einer Identischen Asphaltfläche ausgestattet, so dass man nicht relevant langsamer wird. Leider nicht immer. Auch ist der Faktor unangenehm schneller KFZ-Verkehr ist noch größer und die Möglichkeit die Politik von einer Geschwindigkeitsbegrenzung/-beruigung zu überzeugen noch schwieriger.

Unabhängige Außerörtliche Strecken können einem auch wieder noch kürzere Strecken bieten, zum Beispiel entlang von Bahnstrecken oder auf stillgelegten Bahnstrecken. (Schade um die stillgelegten Bahnstrecke, die eigentlich noch wichtiger für die Verkehrswende sein sollte) Mit Bäumen an beiden Seiten, ist man dann noch windgeschützter, als auf einer breiten KFZ-Fahrbahn, so dass man auch an windigen Tagen ohne Gegenwind und Böen fahren kann. Beschleunigt wird der KFZ-Verkehr Außerorts wohl nur dadurch das einige KFZ-Fahrer die vom Auto aufs Rad umsteigen, die es eben vorher zu stressig, laut oder dreckig empfanden.

Ja die Niederlanden sollten nicht unser (End-)Ziel sein. Warum hast du sehr schön dargelegt. Und nach einem anfänglichen Wow, bin ich immer noch nicht ganz sicher, ob Radwege ein Teil eines Zwischenschritts sein können.

Alfons, leider habe ich aus Zeitgründen nicht die Möglichkeit auf Deinen Beitrag in Gänze einzugehen. Aber ein paar Gedanken dazu möchte ich dennoch loswerden:

Meiner Meinung nach ist es kein besonders guter Stil anhand einiger gravierender Negativbeispiele (Münster, jetzt Milton Keynes) die Schutzwirksamkeit –> optimal umgesetzter UND zeitgemäßer Radinfra in Zweifel zu ziehen. Das Cyclegrid der 60er-Jahre Autoplanstadt! Milton Keynes ist ja auch schon ein paar Jahre alt und die vorgegebenen Standards? Naja, darüber brauchen wir gar nicht erst reden. Bei dessen Planung ging es ja in allererster Linie darum, die lästigen Radfahrer vom Autoverkehr zu trennen und das Ideal der autogerechten Stadt zu verwirklichen. Mehr dazu hier: https://www.cycling-embassy.org.uk/wiki/milton-keynes-cycle-network-more-dangerous-road-network
Nimmt man stattdessen die in etwa gleich alte, gleich große und gleich strukturierte Stadt Almere in den Niederlanden als Positivbeispiel kommt man zu einem komplett anderen Ergebnis. Es scheint also nicht an der Separation und an einem eigenen Grid zu liegen, sondern an einer ganz anderen Variable, nämlich der Priorisierung der Verkehrsarten vor allem hinsichtlich Vorfahrt und Reisezeit.

Das niederländische Almere zeigt durch diese Brille sehr schön, dass mit einem Verbot oder Zurückdrängen des Automobils keineswegs die Schlacht geschlagen, sondern mit einer möglichst klar strukturierten und vor allem für alle intuitiv nutzbaren Infrastruktur vorbereitet wird. In das Zentrum von Almere – das eine sehr weite Agglomeration aufweist – kommt man hervorragend mit dem Auto, aber eben auch mit dem Rad, mit dem Bus oder mit dem Zug. Dementsprechend ist der Modal Share UV/MIV in etwa 50/50. Der RVA könnte zugegebenermaßen etwas höher sein, aber das liegt zum großen Teil am nicht gut gelösten Aspekt der Social Safety der teils sehr abgelegenen Radführungen, wodurch Frauen als wesentliche Zielgruppe für Protection/Separation leider enorm abgeschreckt werden.

Die Behauptung dass ein Rad-Separationsnetz in den allermeisten Fällen die Reisezeit des MIV verbessert, halte ich für wenig ganzheitlich, denn bei Reisezeiteinsparungen von vielleicht 3% wird das Kraut nicht fett. Andersrum wird es viel interessanter: Die allerwenigsten entscheiden sich deswegen gegen das Rad, wenn sie mit einem gut organisierten und gepflegten Radwegenetz ein stressfreies und vielleicht sogar reisezeitärmeres Alternativangebot zur Verfügung gestellt bekommen. Es geht hier eben nicht nur um die Reisezeitverkürzüng des MIV sondern vor allem um die Reisezeitverkürzung des Radverkehrs.

Fazit: Es wäre sicherlich nicht sinnvoll, sich gegen eine gute Lösung zu entscheiden, weil sich dadurch auch für andere minimale Vorteile ergeben. In allen Umfragen spielen die Aspekte Bequemlichkeit, Entfernung, Anstrengung die entscheidende Hürde für die Nutzung des Rades im Alltag. Ganz ehrlich: Ich pfeife drauf, dass ein Autofahrender eine halbe Minute eher ans Ziel kommt, wenn ich dafür entspannter zwei oder drei Minuten früher an meinem Ziel ankomme!

Wenn kein Platz zum Fahren ist: steigt ab.
Alles andere sind ausreden um Schwäche Verkehrsteilnehmer nicht berücksichtigten zu müssen. Macht einen kein Stück besser als falsch parkende Autofahrer, die ja leider leider gar nichts dafür können, dass alle Parkplätze belegt oder zu weit weg sind.

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