Deutschland fährt gerne schnell. Aber was ist schon schnell? Formulieren wir es anders: Deutschland fährt gerne schneller als es den Betroffenen lieb ist. Ein besonders großes Problem ist das in Städten. Wir reden hier aber nicht über illegale Autorennen, bei denen gut und gerne mal das Doppelte oder Dreifache der erlaubten Geschwindigkeit erreicht wird. Wir reden über die Regelgeschwindigkeit von 50 km/h, die zu Problemen führt.

Auf engen Stadtstraßen ohne eigene Fahrradwege können 50 km/h-schnelle Autos nervig bis gefährlich werden. Wo viel Fußverkehr ist, sieht es ähnlich aus. Und nicht zu vergessen und vielleicht noch wichtiger sind die Anwohner*innen dieser Tempo 50-Strecken. Sie leiden unter Verkehrslärm – übrigens nicht nur in Städten. Auch ‚auf dem Land‘ kann Verkehr und der damit verbundene Lärm unerträglich werden. Inzwischen fordern daher fast 400 Städte und Kommunen Entscheidungsfreiheit bei der Einrichtung von Tempo 30. Die Initiative Lebenswerte Städte und Gemeinden, gegründet im Juli 2021, kritisiert, dass Städten und Kommunen bei der Anordnung von Höchstgeschwindigkeiten „viel zu enge Grenzen gesetzt“ sind. Lediglich vor Schulen, Kindertagesstätten oder Altenheimen sei es verhältnismäßig einfach, Tempo 30 anzuordnen.

Abhilfe schaffen kann nur der Bund. Der Bundesverkehrsminister müsste die Straßenverkehrsordnung und das Straßenverkehrsgesetz dahingehend ändern, „dass die Kommunen selbst darüber entscheiden dürfen, wann und wo welche Geschwindigkeiten angeordnet werden – zielgerichtet, flexibel und ortsbezogen – Genau so, wie es die Menschen vor Ort brauchen und wollen!“, wie es von der Initiative Lebenswerte Städte und Gemeinden heißt.

Der Bundesverkehrsminister will aber nicht. Der Tagesschau teilt Volker Wissings Ministerium zwar mit, dass man offen für unterschiedliche Lösungsansätze sei, aber nicht überzeugt von Geschwindigkeitsbeschränkungen in Durchgangsstraßen. Damit scheint Wissing auf der Seite der Mehrheit zu sein. Der Spiegel berichtet, dass „die Mehrheit der Deutschen“ gerne schneller vorankommen möchte. Demnach lehnen 57 Prozent der Befragten mehr Tempo 30 auf Stadtstraßen ab.

Die Geschwindigkeiten sollten von denen bestimmt werden, die davon direkt betroffen sind. Die Kommunen sollten die Freiheit bekommen, es selbst in die Hand zu nehmen.

Dabei ist es aber unerheblich, was die Mehrheit der Deutschen will. Denn bei konkreten Projekten ist die Mehrheit der Deutschen immer ortsfremd. Für die Mehrheit der Deutschen spielt es keine Rolle, ob auf der Dorfstraße in Hartenholm Tempo 30 gilt, weil die Mehrheit der Deutschen davon nie betroffen sein wird. Die Mehrheit der Deutschen sollte daher auch nicht entscheiden dürfen, ob Hartenholm Tempo 30 einführt. Diese Entscheidung sollte bei den Bürgerinnen und Bürgern Hartenholms liegen. Insofern sollte man auch nicht so tun, als würde Tempo 30 autokratisch vom Himmel regnen, wenn Städte und Gemeinden die Entscheidungsfreiheit bekämen. Auch vor Ort wird natürlich demokratisch darüber entschieden.

Und der Wunsch nach Entscheidungsfreiheit geht über alle Parteigrenzen hinweg. Die meisten Bürgermeister*innen stellen sogar CDU/CSU, dicht gefolgt von der SPD und Parteilosen. Selbst die FDP ist mit fünf Vertreter*innen dabei. Diese Vielfalt zeigt, dass es völlig aus der Zeit gefallen ist, aus Berlin Antworten auf Fragen zu diktieren, die vor Ort immer lauter gestellt werden. Das Leben findet vor Ort statt und bei dem heutigen Verkehrsaufkommen ist es schwierig genug, die verschiedenen Interessen zu orchestrieren. Der Bundesverkehrsminister sollte es den Menschen vor Ort nicht noch schwieriger machen – nicht durch Nichtstun und schon gar nicht durch „unterschiedliche Lösungsansätze“, die doch wieder nur dazu gedacht sind, alles komplizierter zu machen, damit sich am Ende gar nichts ändert. Die Geschwindigkeiten sollten von denen bestimmt werden, die davon direkt betroffen sind. Die Kommunen sollten die Freiheit bekommen, es selbst in die Hand zu nehmen. Volker Wissing kann sich hier also als echter Freiheitskämpfer geben. Das sollte ihm eigentlich gefallen.