Ich habe kürzlich von einem Unfall in meiner Region gelesen, bei dem eine 25-jährige Autofahrerin frontal gegen einen Baum prallte und dabei ums Leben kam. Das ist ziemlich traurig und wenn ich so nachdenke, ist es noch viel schlimmer, dass darüber gesellschaftlich eigentlich nicht weiter nachgedacht wird. Verkehrstote sind zum Kollateralschaden unseres mobilen Lebensstils geworden, den wir achselzuckend hinnehmen. In den vergangenen 20 Jahren kamen im Verkehr durchschnittlich 4.358 Menschen pro Jahr ums Leben. Während der Coronapandemie waren die Unfallzahlen und damit die Zahlen der Getöteten zurückgegangen, weil der Verkehr während der Lockdowns insgesamt weniger geworden war. Der Trend hat sich aber wieder umgekehrt, inzwischen sterben wieder mehr Menschen auf den Straßen.

Radfahrende wollen sich damit allerdings weniger abfinden als Autofahrende. Oder woran liegt es, dass Fahrradszenen in ganz Deutschland weiße Räder, so genannte Ghost Bikes, für Menschen aufstellen, die sie gar nicht kannten? Von Autoszenen hört man sowas nicht. Stehen hier und da mal kleine Kreuze am Fahrbahnrand, dann stammen die meist von den Angehörigen der Getöteten selbst.

2014 haben wir ein Ghost Bike für einen erst 20-jährigen Radfahrer aufgestellt, der in Osnabrück von einem abbiegenden LKW getötet wurde.

Ich gehöre zwar selbst zu denen, die sich um das Aufstellen von Ghost Bikes kümmern und habe auch oft genug darüber geschrieben – weil es in Osnabrück leider regelmäßig Grund dazu gab. Aber was motiviert Menschen eigentlich, an Opfer zu erinnern, die sie gar nicht kannten? Warum setzen sie sich so intensiv damit auseinander, wenn ein*e Unbekannte*r in der Stadt gestorben ist. Das habe ich einige Menschen in Deutschland gefragt.

Wir gedenken damit eines Menschen, der bei einer Tätigkeit getötet wurde, die man selber liebt – dem Radfahren.

Andreas, Nürnberg
Es gibt nichts Gutes außer man TUT es! Mein erstes Ghost Bike habe ich ganz alleine initiiert. Ich habe ein geeignetes Fahrrad gesucht und es weiß lackiert. Nach und nach haben sich einige mir unbekannte Nürnberger*innen durch Spenden daran beteiligt. Soziale Medien helfen da. Wichtig war mir nur, den Kontakt und die Einwilligung der Hinterbliebenen zu bekommen.

Und dann gehört auch Pressearbeit dazu, um auf den Todesfall und die Ignoranz seitens Politik und Polizei gegenüber den jährlich hunderten Toten und tausenden Verletzten aufmerksam zu machen. Es ist tatsächlich immer mehr Arbeit als man glaubt und es wäre schön, wenn sich mehr Leute zu dieser Art der Trauerbewältigung berufen fühlten. Denn es ist für eine gute Sache. Wir gedenken damit eines Menschen, der bei einer Tätigkeit getötet wurde, die man selber liebt – dem Radfahren. Am Ende des Tages steht ein weißes Rad angeschlossen an einer Laterne. Leider wird es nie wieder fahren.

Wir haben uns als Gesellschaft zu sehr an diese Tode gewöhnt und nehmen sie einfach hin, aber hinter jedem Tod steht ein Einzelschicksal

Falko, Frankfurt am Main
Ich kümmere mich in Frankfurt um das Aufstellen und die Pflege der Ghost Bikes und den jährlichen Ride of Silence, weil ich finde, dass die getöteten Radfahrer*innen ein angemessenes Andenken verdienen. Deren Tode hätten in den meisten Fällen durch bessere Infrastruktur und mehr Rücksicht von Seiten der motorisierten Verkehrsteilnehmenden verhindert werden können. Wir haben uns als Gesellschaft zu sehr an diese Tode gewöhnt und nehmen sie einfach hin, aber hinter jedem Tod steht ein Einzelschicksal, stehen viele Betroffene (Freund*innen, Familie, Kolleg*innen). Die Ghost Bikes bieten einen Ort, an die getöteten Menschen zu erinnern. Auch wenn ich diese Menschen nicht persönlich kannte, sind sie doch Teil dieser Gemeinschaft gewesen, und ihr Tod sollte nicht unsichtbar und unkommentiert bleiben. Außerdem möchte ich mit den Ghost Bikes Mahnmale schaffen, die hoffentlich andere Verkehrsteilnehmende dazu bewegen, sich im Verkehr rücksichtsvoller zu verhalten, insbesondere gegenüber ungeschützten Verkehrsteilnehmenden.

Fehlerverzeihende Infrastruktur rettet Leben.

Daniele, München
Auf einer Tour von Oslo nach München merkte ich, mit welchen simplen Maßnahmen die Sicherheit von Radfahrenden gesteigert werden kann. Kurze Zeit später wurde in München eine Radfahrerin an einer Kreuzung getötet, die ich auf dem Weg zur Arbeit überquere. Das nahm mich sehr mit.
Seitdem setze ich mich für eine sichere Fahrradinfrastruktur ein, die Fehler verzeiht. Klingt verrückt, ist es aber nicht. Denn sowas gibt es schon auf Autobahnen. Hier wird alles getan, um die Folgen eines Fehlers abzufedern. In deutschen Innenstädten treffen Kinder und 40-Tonner ungeschützt aufeinander. Kleine Fehler wirken sich hier schnell tödlich aus. Das muss nicht sein, denn es gibt genug Städte, wie Oslo, die hier erfolgreich durchgreifen. München gehört nicht dazu.
Mit Geisterrädern wollen wir nicht nur an ein vergangenes Leben erinnern und den Angehörigen einen Erinnerungsraum schaffen, sondern gleichzeitig auch Verantwortliche und die Öffentlichkeit ermahnen: Fehlerverzeihende Infrastruktur rettet Leben.

Unsere Verkehrsregeln sind bisher so, dass der Tod von Menschen in Kauf genommen wird. Das Ghost Bike soll diesen Irrsinn sichtbar machen.

Till, Freiburg
Der Verkehr ist nach sehr archaischen Regeln organisiert: Er muss schnell und leicht fließen, ständig wachsen: Mehr Straßen, mehr Autos, mehr PS, mehr Verkehr! Für Schwächere ist da wenig Platz. Dieses Mobilitätssystem ist brutal, rücksichtslos und unmenschlich. Wir blenden die Ursachen und Folgen meistens aus. Durch Verdrängen ist der tägliche Wahnsinn auszuhalten. Der Tod nach einem Zusammenstoß darf nicht wirklich berühren, muss anonym bleiben, sonst müssten wir die Brutalität als Ganzes in Frage stellen. Trauer und Ehrfurcht haben keinen Platz im Verkehr.

Ghost Bikes stelle ich auf, damit der Verkehrstod eines Menschen sichtbar wird. Alle Verkehrsteilnehmer sollten sich mit den Folgen ihrer Fortbewegungsart auseinanderzusetzen. Unsere Verkehrsregeln sind bisher so, dass der Tod von Menschen in Kauf genommen wird. Das Ghost Bike soll diesen Irrsinn sichtbar machen. Es soll permanent daran erinnern, dass sich etwas an den Regeln und am Verhalten im öffentlich Raum grundlegend ändern muss, bis niemand mehr sterben muss, weil er von A nach B wollte. Das Ghost Bike ist eine Aufforderung zum Nachdenken, ist also ein „Denkmal“. Ghost Bikes können eine Chance sein, im öffentlichen Raum mehr Würde, Menschlichkeit und Solidarität zu leben.

Für Fahrräder ist im Straßenverkehr auch im Jahr 2022 kein Platz.

Malte, Hamburg
Für Fahrräder ist im Straßenverkehr auch im Jahr 2022 kein Platz: Wir bewegen uns irgendwo zwischen Kraftfahrzeugen und Fußgängern, sind gefühlt immer im Weg, halten uns angeblich nie an die Regeln. Aber eigentlich sind wir nur Menschen, die mit einem Fahrrad von A nach B fahren wollen.

Wenn jemand auf dem Rad tödlich verunglückt, sind die Ursachen meistens besonders tragisch. Der autozentrierte Straßenbau lässt Radfahrer*innen und Fußgänger*innen unsichtbar werden, unsere Infrastruktur ist geradezu trügerisch: An einer grünen Fahrradampel kann ich eine Kreuzung überqueren, werde ich dabei von einem abbiegenden Kraftfahrzeug verletzt, heißt es, ich hätte meine Vorfahrt erzwungen. Wir bekommen Schutzstreifen, die nicht schützen, und Radwege, die wie Parkplätze aussehen. Das weiße Geisterrad signalisiert, dass hier jemand auf einem Fahrrad zu Tode gekommen ist. Und schaut man sich das Drumherum um die Unfallstelle an, so dient das Geisterrad als Mahnung, dass hier noch viel zu tun ist.

Das Andenken an den Menschen, der bei einem Unfall getötet wurde, steht für mich beim Aufstellen eines Ghost Bikes an erster Stelle.

Volkmar, Osnabrück
Das Andenken an den Menschen, der bei einem Unfall getötet wurde, steht für mich beim Aufstellen eines Ghost Bikes an erster Stelle. Gleichzeitig möchte ich damit auch mein Mitgefühl für die Angehörigen ausdrücken, für die das Aufstellen oft ein wichtiges Zeichen der Anteilnahme ist und einen Ort des Erinnerns schafft.

Das weiße Fahrrad soll darüber hinaus ein sichtbares Zeichen für die vielen Opfer der autozentrierten Verkehrsinfrastruktur sein, die ich nicht einfach hinnehmen werde – und dass noch sehr viel für eine Verkehrswende und die sichere Teilnahme von allen im Verkehr zu tun ist. Im besten Fall regt das Geisterfahrrad andere Verkehrsteilnehmende zum Nachdenken und (mehr) Rücksichtnahme gegenüber anderen an.

Es soll zum Nachdenken anregen, dass etwas geändert werden muss und dazu auffordern, endlich zu handeln.

Carola, Stuttgart
Die Nachricht vom Tod einer/eines Radfahrenden macht mich jedes Mal traurig und wütend: Traurig, weil wieder einem Menschen im Verkehr sein Leben genommen wurde. Ich denke an die Familie, Freund*innen und Kolleg*innen, die auf einmal und völlig unerwartet mit dem Verlust eines geliebten Menschen leben müssen. Wütend, weil dieser Tod in den meisten Fällen nicht hätte passieren müssen: Radwege sind seltener Luxus, oft blockiert oder enden im Nichts. Kreuzungen sind zugeparkt und zu eng überholt oder abgedrängt zu werden, ist Fahrradalltag. Das alles ist bekannt, könnte schnell geändert werden, aber es bewegt sich alles viel zu langsam. Es kann nicht sein, dass auf unseren Straßen Menschen sterben, wir nehmen das als gegeben hin und machen weiter wie zuvor.

Mit dem Aufstellen eines Ghost Bikes will ich daran erinnern, dass an dieser Stelle ein*e Radfahrer*in gestorben ist. Es soll zum Nachdenken anregen, dass etwas geändert werden muss und dazu auffordern, endlich zu handeln. Damit niemand mehr auf der Straße sterben muss.

Wir finden es wichtig, diese Velos an den Unfallstellen aufzustellen. Sie sind ein Ort des Trauerns, der Mahnung und sollen unsere Solidarität gegenüber der Angehörigen zeigen.

Lukas, Zürich
Die Idee, Ghost Bikes aufzustellen, stammt nicht von uns. 2003 wurden die ersten Räder in den USA aufgestellt. Wir finden es wichtig, diese Velos an den Unfallstellen aufzustellen. Sie sind ein Ort des Trauerns, der Mahnung und sollen unsere Solidarität gegenüber der Angehörigen zeigen. Vor jeder Aktion nehmen wir Kontakt zu den Angehörigen auf, um zu fragen, ob sie sich an solch einem Mahnmal gestört fühlen oder einverstanden sind. In den meisten Fällen ist es kein Problem.

Es ist nur eine Vermutung, weshalb die Empathie gegenüber verunglückten Velofahrenden grösser ist als bei Verunfallten mit Motorfahrzeugen. Ein von einem Auto touchierter Velomensch stürzt und schlägt sich den Kopf auf. Während der PKW mit einem Kratzer im Lack davonfährt. Der Menschenverstand sollte wie selbstverständlich den Veloverkehr sicherer machen. Wir können nur hoffen und weiterkämpfen.

Anfangs haben wir gezögert. Doch die Geisterräder haben sich bewährt, nicht nur als Anlaufstelle für Hinterbliebene, auch als Ort der Mahnung und des Protests.

SuSanne, Berlin

In den 1990er-Jahren hatte der ADFC Berlin sporadisch Kreuze, z.B. für die 1992 im Verkehr getöteten 18 Kinder, oder dekorierte Laufräder für getötete Radfahrende an zentralen Orten aufgestellt. Dann passierte viele Jahre nichts. Für eine 2008 getötete Radfahrerin stellten wir am 13.02.2009 das erste Geisterrad auf. Rund 150 haben wir in Berlin in den vergangenen 13 Jahren aufgestellt – seit dem ersten Geisterrad bin ich dabei. Mit Unterstützung einer Aktivengruppe organisieren wir für jedes Opfer eine Kundgebung und stellen ein weißes Rad als Mahnmal auf. Das bietet uns die Möglichkeit, mit Mitstreitern, Angehörigen, Ersthelfern, Zeugen und anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Oft gibt es bewegende Szenen. Wenn eine Ersthelferin, die einer Radfahrerin vor deren Tod die Hand gehalten hat, Hinterbliebene trifft. Oder wenn Zeugen berichten, wie sie plötzlich aus ihrem Alltagsleben gerissen wurden, als vor ihren Augen ein Radfahrer unter die Räder eines schweren Lkw gezogen wurde.

Anfangs haben wir gezögert. Doch die Geisterräder haben sich bewährt, nicht nur als Anlaufstelle für Hinterbliebene, auch als Ort der Mahnung und des Protests.

Zum Schluss kommt noch eine ganz besondere Stimme. Sanne aus Niederndodeleben hat ihren Mann, einen begeisterten Radfahrer und Radsportler, 2018 verloren. Er kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Wer, wenn nicht sie, kann dem Thema Ghost Bike eine authentische Stimme geben. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie das an dieser Stelle macht! Und um es vorwegzunehmen: Es klingt ganz und gar nicht blöd, was sie da ganz am Ende schreibt. Im Gegenteil!

Sanne, Niederndodeleben
Im Januar 2018 fuhr mein Mann mit Kollegen seines Radsportvereins zur ersten Trainingsfahrt des neuen Jahres los. Leider war es für ihn eine Fahrt ohne Wiederkehr. Während der Tour kam es zu einem Unfall mit einem Pkw, bei dem mein Mann tödlich verletzt wurde. Es war für alle ein riesiger Schock und einfach ein schreckliches Ereignis. Dennoch stand von Anfang an außer Frage, dass wir ein Ghost Bike aufstellen würden. Für mich und uns alle ist es einerseits ein Ort der Mahnung, andererseits aber auch ein Ort, der unser Leben drastisch verändert hat und an dem wir einem geliebten Menschen gedenken können.

Das Ghost Bike stammt von einem Radfahrer, der ebenfalls einen Unfall hatte, dabei aber „nur“ verletzt wurde. Es wurde im April 2018 von Freunden, Kollegen, Radsportlern des Vereins und mir in einer kleinen Zeremonie aufgestellt. Leider waren die ersten Wochen und Monate nach dem Aufstellen immer wieder von Ärger und Unverständnis geprägt, da Unbekannte immer wieder Teile vom Ghost Bike abbauten. Erst als alles wirklich fest verschweißt wurde, hat es aufgehört. Das Ghost Bike steht an einer Landstraße in Sachsen-Anhalt, die auch stark befahren ist. Ich besuche es regelmäßig – alle zwei bis drei Wochen –, bringe es in Ordnung und stelle Blumen auf. Die Vereinskollegen fahren bei ihren Trainingstouren regelmäßig vorbei, zum Todestag treffen wir uns dort alle und gedenken des schrecklichen Tages. Es klingt vielleicht blöd, aber es ist schön, an diesem Tag mit den Freunden des Vereins dort zu sein.

Fotos: privat