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Osnabrück

Alles ganz anders

Ich habe mich bei der Bewertung des tödlichen Fahrradunfalls in der vergangenen Woche bewusst zurückgehalten. Natürlich macht man sich Gedanken, wie das schon wieder passieren konnte. Aber es ist eigentlich müßig, die Schuld zu verteilen, bevor der genaue Unfallhergang geklärt ist. Das sieht allerdings nicht jeder so. In den (a)sozialen Netzwerken und Kommentarbereichen hat es ein paar Minuten gedauert, aber als sich der erste Untendrunterkommentator getraut hatte, sind die üblichen Verdächtigen wieder mit eingestiegen. Auch hier im Blog. Seit langem habe ich mal wieder von meiner Löschfunktion Gebrauch gemacht.

Was die Polizei jetzt mitteilt, dürfte ein fetter Schlag ins Gesicht der „Selber schuld“- und „Radfahrer halten sich nicht an Regeln“-Schreiber sein – insbesondere für die Osnabrücker-Bürger-APO. Denn allen Zeugenaussagen zum Trotz hat sich der Unfall offenbar doch ganz anders abgespielt. Das legt die Auswertung einer LKW-Dashcam nahe. Demnach stand die Radfahrerin rechts neben dem LKW und wollte ebenfalls nach links in die Martinistraße abbiegen. Sie hat nicht die Fußgängerfurt befahren, wie zunächst berichtet. Als der LKW seine Fahrtrichtung ändern und auf die Geradeausspur ziehen wollte, versuchte die Radfahrerin offenbar noch vor ihm her zu ziehen, wurde dabei aber erfasst und überrollt. Sie ist also nicht auf der falschen Seite, dem Gehweg oder über Rot gefahren.

Insofern sehe ich mich auch vollkommen bestätigt darin, dass gute Infrastruktur diesen Unfall hätte verhindern können. Die vorhandene sieht nämlich in keiner Weise ein Linksabbiegen von Radfahrern in die Martinistraße vor – weder direkt noch indirekt. Ich kann mich also nur wiederholen: Wir brauchen sichere und fehlertolerante Infrastruktur, keine Streifchen, auf denen man bei dem kleinsten Fehler das Leben oder die Gesundheit riskiert. Und auch keinen Mischverkehr mit LKW und Tempo 50. Leider ist die Situation an der Unfallkreuzung das genaue Gegenteil. Es ist überhaupt keine Infrastruktur für Radfahrer vorhanden. Diese werden Am Struckmannshof sogar per Schild gebeten, einen Umweg zu fahren.

Die Klärung des Unfallhergangs bringt das Leben der getöteten Radfahrerin leider nicht wieder zurück. Es zeigt aber, dass sie eben nicht instrumentalisiert wird, um für sichere Radverkehrsinfrastruktur zu werben. Wer – wie ich – sichere Radwege fordert, will Unfälle wie diesen verhindern. Und das habe ich schon lange vor diesem Unfall getan.

Update 15. Oktober 2020
Die NOZ berichtet, dass der LKW-Fahrer die Radfahrerin hätte sehen müssen und auch hätte sehen können. Allerdings träfe laut Staatsanwaltschaft auch die Radfahrerin eine Mitschuld, da sie den benutzungspflichtigen Radfahrstreifen verlassen habe. Demnach hätte sie „am Hotel geradeaus über die Kreuzung fahren müssen, um dann irgendwie (sic) auf die Martinistraße zu kommen“. Das sagt schon alles. Einfach nur Fahrradfahren ist in diesem auf Autos ausgelegten Verkehrssystem leider nicht möglich – mit tödlichen Folgen.

Foto: dd

14 Antworten auf „Alles ganz anders“

Da ist sie wieder:
Instrumentalisierung von einzelnen tödlichen Unfällen für die eigene verkehrspolitische Agenda.
Bei den vielen vielen ‚Radwegeunfällen‘ wars dann halt ‚trotz des Radwegs‘ der LKW-Fahrende schuld, bei den Radweg Alleinunfällen und den Radweg Rad-Rad-Unfällen war der Radweg nur ein wenig zu schmal, und dass im gelobten Radwege-NL im Verhältnis zur Fahrleistung mehr tödliche Radunfälle passieren als in D ist auch sche***-egal.
Ich halte es für nicht nur unseriös, sondern auch für pietätlos bei jedem vielleicht ‚passenden‘ oder vermeintlich passenden Unfall seine eigene Agenda aufzusetzen, zumal wenn die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Massnahmen überhaupt nicht gegeben ist.
Die letzten tödlichen Radunfälle in MS etwa waren explizite Radwegeunfälle mit der fatalen Kombination Radweg + rechtsabbiegender Motorverkehr + konflikthafte LSA-schaltung.
Eine gewisse Entschärfung konnte an den fraglichen Stellen und darüber hinaus – auch auf Druck des örtlichen ADFC hin – durch veränderte LSA-Schaltung und bessere Sichtbeziehungen geschaffen werden. Hier ist natürlich jeweils die spezifische örtliche Situation zu betrachten und de Ursache zu benennen. Bei den Fällen in MS war dies das (heimliche) Dogma der Verwaltung vom Vorrang des flüssigen Autoverkehrs gegenüber den Sicherheitserfordernissen des Rad- und Fußverkehrs.
Beim aktuellen OS-Unfall wäre ein Separationskonzept mit markierter Radspur m.E. eher nicht unfallverhindernd gewesen, eher schon eine separat geschaltete Führung mit Gebot des indirekten Linksabbiegens, was aber eine sehr deutliche Verlangsamung und Behinderung des Radverkehrs insgesamt zur Folge hätte, was wiederum den Auto/LKW-Verkehr stärkt, was wiederum die Unfallgefahr insgesamt erhöht.
Zudem ist dieser spezielle Unfalltyp (LKW wechselt mutmaßlich regelwidrig aus dem Stand an LSA den Fahrstreifen ohne dabei auf weiteren Verkehr zu achten) zu selten, als dass sich daraus allgemeine Schlüsse im Sinne der ‚Rad braucht Radweg Agenda‘ ziehen lassen könnten.

Wir brauchen endlich eine moderne Mobilität mit Verkehrsvermeidung, mit umwelt- wie menschengerechter Struktur eines inklusiven Verkehrs im Umweltverbund als ‚Vollversorgung‘.
Automobil und LKW sind in heutigen Gesellschaften als Massenverkehrsmittel und ‚Regellösung‘ einfach nicht (mehr) geeignet.
Von den klimapolitischen und ökologischen Negativfolgen der autogerechten Radwegbauerei ala CSU, ADAC, BMW, und ADFC mal ganz abgesehen.

Über 50Mio. Menschen wurden mittlerweile weltweit durch Automobile und LKW per ‚Unfall‘ getötet, mind. die doppelte Anzahl starben durch Abgase und Lärm. Die Umwelt bzw. Klimafolgen des Auto- und LKW Verkehrs gehören zu den massgeblichen Treibern der Vernichtung der Lebensgrundlagen für hunderte Millionen Menschen im globalen Süden (Klimaumbruch mit Hitze, Wasserknappheit, Überschwemmungen und kompletten Ernteausfällen).
Da braucht es entschieden mehr als die allerorten zusätzlich gebauten Radwege, die am Ende nur die bestehende automobile Struktur verfestigen, die die Raumstruktur der weiten Wege zementieren und die im Kern – was Auto und LKW angeht – alles beim Alten lassen bzw. den Trend zu immer längeren autombilen Distanzen und verlängerten strassenbasierten Lieferketten noch forcieren.
Siehe Steigerung des Autoverkehrs und Unfallbilanz in den Niederlanden!
Empirie zu Unfällen:
https://radunfaelle.wordpress.com/vergleich-de-nl/

Mein Beileid den Angehörigen dieses ‚Unfalls‘ und der vielen vielen anderen ‚Unfälle‘.

Nur mal zu dem Link. Auf den Verfasser des verlinkten Machwerks, bzw auf eine seiner Vorgängerversionen, bereits seinerzeit von Krückmann fleißig verlinkt, wird hier mit großer Sachkenntnis eingegangen.
Lesenswert.

‚Postfaktische Sachlichkeit? Wie versucht wird, durch falsche Berechnungen das Erfolgsmodell Niederlande schlechtzureden‘ (Velocity Ruhr)
https://velocityruhr.net/blog/2016/12/25/postfaktisch/

Wer dann so etwas trotz mehrfacher Hinweise immer weiter verlinkt, der hat eine Agenda. Mit Förderung des Radverkehrs, mit Verkehrswende, und auch mit Zurückdrängung des Kfz-Verkehrs hat die trotz aller diesbezüglicher Schwurbeleien allerdings nichts zu tun.

Da du mich ja auf Twitter geblockt hast, will ich gerne die Gelegenheit ergreifen, hier zu deinem Vorwurf Stellung zu nehmen. ;-)

Das Ergebnis meiner radunfaelle-Seite bezüglich der Toten pro Milliarden Radkilometer wurde vom SWOV (NL-Behörde für Verkehrssicherheit) exakt so wie berechnet bestätigt. Das wundert auch nicht weiter, denn die zur Berechnung von mir verwendeten aktuellen Eckdaten (Jahresfahrleistung und Verkehrstote) sind sowohl für NL als auch für D unstreitig und für Jedermann problemlos im Netz nachprüfbar. Der Rest ist simple Dreisatz-Arithmetik.

Ich bin Naturwissenschaftler. Wenn du mir nachweisen könntest, dass meine Rechnung nach sachlich falsch ist, würde ich dies sofort akzeptieren. Nicht akzeptabel ist nur, wenn Radwegfreunde zugunsten ihrer verkehrspolitischen Träume die arglosen Radfahrer da draußen behumsen.

Oh mein Gott – wie entsetzlich! Allein die Vorstellung, mit meinen läppischen 15 kg Fahrrad neben einen LKW zu geraten, der sich unvermittelt in meine Richtung in Bewegung setzt! Sh**.
Das ist eine Alltagssituation, in die jede*r unter blöd ungünstigen Umständen auch geraten kann. Da muss! unbedingt! sofort! etwas zum Schutz der vielen schwachen Verkehrsteilnehmer passieren.

als „Erste Hilfe “ klappt nur gegenseitige Rücksichtnahme und penibeler Beachtung der Regeln durch alle Verkehrsteilnehmer.
Danach weiter für bessere Infrastruktur kämpfen !

Die „Schuldfrage“ ist irrelevant. Der gesamte Weg mit dem Rad quer durch die Stadt, also in diesem Fall vom Schinkel Richtung Hellern, ist brandgefährlich. Schon der Radweg Bohmter Straße macht Angst. Zu nah sind die LKW, Busse, breite SUV. Selbst wenn der Radweg nicht blockiert ist. Richtig gefährlich ist dann die Einfahrt der Busse auf das Gelände der Stadtwerke am Stadtwerke Gebäude. Die kommen aus Richtung Neumarkt und andere Busse in Richtung Neumarkt lassen die Linksabbieger gerne vor und halten an. Mit dem Rad habe ich in Richtung Neumarkt dann aber grün, für den einfahrenden Bus bin ich nicht zu sehen. Wem es mal passiert ist, der passt auf, aber wer das nicht kennt… Dann kommt der Berliner Platz. Da ist rechts abbiegen verboten, das wird aber oft übersehen. Da lag schon eine Frau unter einem LKW, gegenüber steht auch schon ein Ghost Bike. Nun der Neumarkt. Das nach dem toten Fussgänger vor ein paar Jahren dort nicht viel passiert ist, ist pures Glück. Und dem Umstand zu verdanken, dass dort wohl allen Verkehrsteilnehmern bewusst ist, dass volle Konzentration gefordert ist. Sonst gibt es Tote. Wie kann der Ort so für den Verkehr freigegeben sein, wenn auch noch Radfahrer dort rumwuseln? Das diese die Busspur nicht benutzen dürfen macht es nicht besser. Ist auch keine Lösung, denn mit einem Bus im Nacken fährt es sich auf der Busspur nicht angenehm. Aber es hatte sich ja extra die BOB-Partei gegründet, um dies zu bewerkstelligen. Dann kommt die Kreuzung Wall/ Martinistrasse. Sicherheitsmäßig insgesamt ein Albtraum. Dort ist die Frau gestorben, es war nur eine Frage der Zeit. Einfach nur grausam. Wer das überstanden hat und, aus welchen Gründen auch immer, die Martinistrasse auch nur ein Stück mit dem Rad fahren muss, weiss was Angst ist.

Wenn ich den Unfallhergang richtig verstehe, wäre der Unfall auch nicht passiert, wenn alle mit max. 25 Km/h hintereinander herfahren. Dann sind die ganzen typischen Rechtsabbiegeunfälle bei regelkonformen Verhalten schlicht unmöglich, anders als „In-Sichertheit-Wieg“-Innerorts-Radwegen aka PBL. ein deutllich verlangsamerte Kfz-Verkehr nutzt auf allen Innerortsstraßen.

Es wird mir zu wenig darüber nachgedacht, wie wir die vorhandene Infrastruktur nutzen. Stattdessen wird von allen Seiten darauf fokussiert, die Probleme der Infrastrukturnutzung dadurch zu lösen, dass wir noch mehr Infrastruktur bauen oder ihr ein Facelifting verpassen (unter Schlagwörtern wie Flächengerechtigkeit gerade populär).

Die Radfahrerin stand allerdings nicht von Anfang an vor dem LKW, sondern sie ist der aktualisierten Pressemeldung der Polizei zufolge nachträglich und rechts am LKW vorbei nach vorne gefahren, wo sie sich im Toten Winkel rechts vor dem Führerhaus aufgestellt hat. Da der LKW aufgrund seiner Breite die Linksabbiegespur nahezu komplett ausfüllt, muss die Radfahrerin außerdem über die Geradeausspur nach vorne gefahren sein. Sowohl das Rechtsüberholen per se als auch die Benutzung der mit Richtungs-Pfeilen markierten und im Kreuzungsbereich mit durchgezogener Linie abgegrenzten Geradeausspur zum Linksabbiegen war eindeutig ordnungswidrig. Es ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die Radlerin dabei das Gebot, an der Ampel *vor* der Haltlinie zu warten verletzt hat.
Ich kann dieses „es war alles ganz anders, Radfahrerin doch unschuldig (…lasst uns jetzt den ausländischen LKW-Führer steinigen!)“-Theater der Osnabrücker Tageszeitungen nicht so ganz nachvollziehen.

Also in deinem Text steht, dass die nebeneinander auf einer Spur standen und die erst nach dem Fehler des LKW-Fahrers versucht hat vor ihn zu kommen.

Stell dir vor, du stehst rechts neben einem wartenden LKW. Plötzlich merkst du, dass der Fahrer losfährt und nach rechts zieht. Damit hast du gleich doppelt nicht gerechnet, weil erstens die Linksabbiegerampel noch „rot“ zeigt und zweitens aus Linksabbiegerspuren normalerweise nicht geradeaus gefahren wird. Wie wahrscheinlich ist es, dass du in dieser Situation den Versuch unternehmen wirst, den LKW rechts zu überholen und in einem kühnen Bogen vor dem LKW um das Führerhaus herum nach links aus der Gefahrenzone zu streben?

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