Ein Gastbeitrag von Martin Herrndorf

Radfahrer*innen werden im Straßenverkehr gegängelt, drangsaliert, getötet, verstümmelt. Das Auto dominiert unsere Städte. Warum lassen wir das zu? Eine Analyse des Fahrradalltags und der motorisierten Gewalt.

Es wird Zeit, dass wir reden. Über motorisierte Gewalt, Nötigung, Zwang und Druck, der beim Autofahren ausgeübt wird. Über die Gewalt, die das Autofahren erst möglich macht, Gewalt, die verschleiert wird und doch überall ist. Gewalt, die tötet, verletzt, Angst macht, die unser Verhalten von Kindesbeinen an beeinflusst, die unser Denken beherrscht. Und die wir doch oder gerade deswegen verdrängen. Gewalt, die wir nicht akzeptieren müssen. Dafür müssen wir sie benennen, verstehen und bekämpfen.

Die Gewalt

Motorisierte Gewalt ist allgegenwärtig und doch merkwürdig unsichtbar. Sie versteckt sich hinter dem notwendigen Übel, dem Sachzwang, der Nützlichkeit, der Schönheit, der Wirtschaftskraft. Deswegen sehen wir sie nicht. Sie ist ein Sekundäreffekt der Autogesellschaft, von den Stadtstrukturen hin zum täglichen Umgang miteinander im öffentlichen Raum.

Das Auto ist oft nützlich, manchmal notwendig (wenn auch weit seltener als behauptet), manchmal sogar schön. Es ist nicht als Waffe gebaut. Und deswegen erkennen wir es nicht als solche. Wer sich ins Auto setzt, tut dies nicht um zu verletzen oder zu töten, sondern aus Faulheit, Gewohnheit, Notwendigkeit, Geselligkeit oder aus Spaß an der Geschwindigkeit. Trotzdem töten und verletzen Autofahrer*innen andere Menschen.

Das Auto ist eine »situative Waffe«. Es wird nur zur Waffe, wenn die/der Fahrer*in es dazu macht.

Dann wird von einer Sekunde auf die andere aus dem Instrument der Notwendigkeit oder Gewohnheit das Instrument eines Gewaltverbrechens. Ist die Hupe gut gemeinte Warnung oder bösartige Drohung? Das zu enge Vorbeifahren Nachlässigkeit oder Bosheit? Man sieht die Tat, die Motive sieht man nicht, sie bleiben im Dunkeln. Das Auto macht Gewalt auf Knopfdruck verfügbar, das macht es so verführerisch.

Der Vergleich mit einer echten Waffe ist erhellend. Wer mit einer geladenen Knarre durch eine Fußgängerzone läuft und sich mit »Platz da, hier komme ich«-Rufen freien Weg verschafft, hätte ein Sondereinsatzkommando am Hals. Zu Recht. Wer sich mit einem Auto hupend, drängelnd und rasend durch Wohngebiete freie Fahrt verschafft, erhält ein müdes Nicken des diensthabenden Kommissars, wenn überhaupt.

Die Unterstützer*innen

Motorisierte Gewalt entsteht nicht im Vakuum. Sie wird möglich gemacht von einem »Ökosystem der Gewalt«, einem freundlich gesinnten Unterstützer*innenkreis, der sie mal bewusst, mal unbewusst toleriert oder fördert. Sie ist eingebettet, ja, sie wird ausgeübt durch die Rechtssprechung, die Polizeipraxis, die Stadtplanung, das Ingenieurwesen, die Politik.

Ja, strukturelle Gewalt ist eine notwendige Voraussetzung, die das Autofahren im urbanen Raum überhaupt erst möglich macht. Wir müssen den öffentlichen Raum parzellieren, absperren, bepinseln, für den Verkehrsfluss Radfahrer*innen und Fußgänger*innen mit Wegen und Ampeln in Bahnen zwingen, sie disziplinieren.

Die motorisierte Gewalt ist ein fest einbetonierter Bestandteil unserer Umwelt.

Das Ordnungsamt toleriert Falschparken in den Außenbezirken. Weil doch der Parkdruck so hoch sei. Weil man ja irgendwo parken müsse. Das Blech in den Straßen wiederum zwingt Fußgänger*innen zu Umwegen und absurden Gehwegschlängeleien, es blockiert Kinderwägen und Rollstühle und im Ernstfall sogar Rettungsfahrzeuge der Feuerwehr. Auch das ist motorisierte Gewalt.

Die Lokalpolitik plant für das Auto und richtet unsere Städte danach aus. Immer noch. Sechsspurige Autopisten mit handtuchbreiten Schutzstreifen? Her damit! Radfahrer*innen rechtswidrig auf ungeeignete Radwege zwingen, bald zwanzig Jahre lang, weil diese ihr Recht nicht einklagen? Her damit! Eine Autobahn mitten durch Berlin bauen, aber den Radentscheid verhindern? Immer doch.

Auf Bundesebene legt der Staat Bußgelder in seinen Katalogen nicht danach fest, ob motorisierte Gewalt ausgeübt oder andere Verkehrsteilnehmer*innen gefährdet werden, sondern primär danach, ob der Verkehrsfluss gestört wird. Warum zahlen Radfahrer*innen, die nachts über einsame rote Ampeln fahren fünfmal mehr Bußgeld als Autofahrer*innen, die Bürgersteige illegal zuparken oder Radwege blockieren?

Selbst die Polizei, die gerade schwache Verkehrsteilnehmer*innen schützen sollte, ahndet Nötigungen von Autofahrer*innen an Radfahrer*innen quasi nicht. Hupen, Drängeln, zu enges Überholen, die Vorfahrt beim Rechtsabbiegen missachten? »Gewöhnen Sie sich dran, das ist so«, heißt es dann. Es sei »kein Schaden entstanden« der eine Strafverfolgung rechtfertigt, sagt dann die Staatsanwaltschaft. Aber welcher »echte« Schaden wäre denn bei unserem Fußgängerzonen-Pistolero entstanden? Er verletzt ja auch niemanden und beschädigt nichts?

Gerichte, die bei motorisierter Gewalt nach Jugendstrafrecht urteilen, die mit Ausreden und »guten Sozialprognosen« auch bei Totschlag auf Haftstrafen verzichten, die Rennen nicht als Rennen erkennen wollen, für die motorisierte Gewalt nicht existiert.

Den Rest erledigen die PR-Abteilungen der Polizei und die Presse im gemeinsamen Verschleiern der motorisierten Gewalt. Radfahrer*innen »verunglücken«, »werden übersehen« oder befanden sich »im toten Winkel«. Sie fuhren »ohne Helm« oder »mit Kopfhörern«. Selten liest man von Autofahrer*innen, die »Radfahrer*innen totfahren«, ihnen »die Vorfahrt nehmen«, im Auto »durch das Radio abgelenkt« waren. Die Opfer werden zu Verursacher*innen umgeschrieben, die Täter*innen medial entlastet. Medien, die Radarkontrollen mit einem Augenzwinkern ankündigen, Rechtsanwälte, die dies verbreiten und mit dem Hinweis auf die eigene Raserei um Kunden werben – Seid brav, heute. Morgen ist wieder Alltag. Dann dürft ihr wieder ran. Motorisierte Gewalt.

Die Folgen

Motorisierte Gewalt ist echte Gewalt. Tausende Menschen jedes Jahr werden zerquetscht, mitgeschleift, landen verletzt im Krankenhaus, mit Knochenbrüchen, inneren Blutungen oder Platzwunden. Hunderte sterben daran. Dazu kommen Tausende mit asthmatischen Erkrankungen und Krebs aufgrund von Stickoxid-Emissionen und Feinstaub in den Städten und noch mehr Menschen mit Schlafstörungen aufgrund des Straßenlärms.

Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn motorisierte Gewalt beeinflusst uns in unserem Alltag. Sie reduziert das, was Verkehrsexpert*innen leicht abwertend »subjektive Sicherheit« nennen, im Gegensatz zur »objektiven Sicherheit«, den Statistiken. Subjektive Sicherheit, das wird als die verzerrte Wahrnehmung von Radfahrer*innen dargestellt. Aber man kann sie auch anders benennen. Deutlicher. Subjektive Sicherheit ist das Gefühl, nicht in Gefahr zu schweben. Sich geborgen, entspannt, frei zu fühlen.

Die Abwesenheit von subjektiver Sicherheit wiederum ist Angst. Furcht. Gefühle, die wir nicht wahrhaben wollen, die wir verdrängen, weil es bequemer ist. Ein kollektives Stockholm-Syndrom. Muss so sein. Geht nicht anders.

Millionen Menschen fahren kein Rad, weil sie Angst haben, selbst, wenn sie sich hinter anderen Argumenten verstecken. Millionen mehr fahren Umwege, fahren in der »dooring zone« weil sie Angst haben, genötigt und geschnitten zu werden (eine Angst, die viel zu oft berechtigt ist).

Gleich drei Autofahrer nehmen sich das Recht und parken auf Gehweg und Radfahrstreifen. Beim Ausweichen droht dem Radfahrer Gefahr von hinten und von den Autotüren der Falschparker.

Der öffentliche Raum dagegen ist zugeparkt und durchreglementiert, um den Autofluss zu gewährleisten. Auch dies ist Gewalt. Das Leben verlagert sich nach innen, in private und kommerzielle Räume, oder quetscht sich auf die letzten verbliebenen urbanen Freiflächen.

Und die motorisierte Gewalt beeinflusst uns von Kindesbeinen an. Lauf nicht auf die Straße. Geh nicht auf der Straße. Geh nicht allein zur Schule. Draußen ist Gefahr. Der Park ist okay. Drinnen ist gut. Riegel, Leine. Der öffentliche Raum als Todeszone. Kinder unter Daueraufsicht. Auf der Rückbank. Weggeschlossen.

Selbst wer Auto fährt, ist Opfer – ob er tatsächlich aufgrund der Umstände und falscher Politik zum Autofahren gezwungen ist oder nur meint, fahren zu müssen. Opfert Jahre an Lebenszeit dafür, das Geld für Auto, Versicherung, Steuer, Benzin und Parken zu erwirtschaften. Verbringt Jahre im Stau. Atmet Abgase ein. Hört den Lärm.

Wir haben die motorisierte Gewalt verinnerlicht. Wir verteidigen sie. Wir passen uns an. Weil es bequemer ist, auf Kampfradler*innen zu schimpfen, die verantwortungslos ohne Westen und Helm durch die Stadt fahren. Weil es bequemer ist, die Schuld auf die Opfer zu schieben. Weil es uns die Illusion gibt, die Lage im Griff zu haben, die richtigen Maßnahmen zu treffen, uns zu schützen. Obwohl wir alle schon Gewaltopfer sind in dem Moment, in dem wir in die von Autos dominierte Gesellschaft hineingeboren werden.





Die motorisierte Gewalt infiziert selbst den Kampf gegen sie. Die »Radszene« ist voll von tollen Menschen, die aber manchmal misstrauisch sind, hart und aggressiv, den Behörden und der Polizei gegenüber, aber auch untereinander. Eine differenzierte Diskussion ist oft schwierig. Weil wir nicht darauf vertrauen, dass deutsche Städte wirklich gute Radwege bauen, müssen wir Radwege an sich bekämpfen. Aus der pauschalen Vernachlässigung und Gängelung der Radfahrer*innen wird im internen Diskurs der Slogan »Radwege töten«, das sachlichen Diskussionen und einem guten Umgang miteinander im Wege steht.

Der Ausweg

Motorisierte Gewalt ist nichts, was wir hinnehmen müssen. Wir können sie zurückdrängen, bekämpfen, eindämmen. Es gibt Wege und Mittel – und es gibt Vorbilder.

Was muss passieren?

Wir brauchen eine Stadt der kurzen Wege, die es Menschen ermöglicht, ohne Auto zu leben. Die es ihnen erlaubt, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, ohne permanent drangsaliert zu werden – ob durch die bauliche, autogerechte Infrastruktur oder konkrete Gewaltakte. Eine Stadt mit sicheren Räumen für Radfahrer*innen (und Fußgänger*innen). Rücksichtnahme statt Regulierung, Kreisverkehr statt Ampeln, breite, glatte und durchgängige Radwege statt kilometerlanger Autofriedhöfe.

Wir brauchen einen Gesetzgeber, der motorisierte Gewalt vorausschauend verhindert, in ihrer Ausübung auf der Straße und in ihren institutionellen Rahmenbedingungen. Mit höheren Bußgeldern für Falschparken und Drängeln. Mit adäquaten Strafen für Nötigungen und Gefährdungen im Straßenverkehr.

Wir brauchen eine Polizeipraxis und eine Justiz, die motorisierte Gewalt konsequent verfolgt und ahndet, vom Falschparken bis zum Totschlag. Die Autos und Führerscheine von Drängler*innen und Raser*innen auf der Stelle einzieht, die Nötigungen im Straßenverkehr konsequent verfolgt, Radpolizist*innen, die Schwerpunktkontrollen bei rechts abbiegenden Autos vornehmen und die zu eng überholende Autofahrer*innen sanktionieren.

Wir brauchen Medien, die bei motorisierter Gewalt Täter*in und Verantwortung sprachlich präzise benennen.

Und, nicht zuletzt, brauchen wir Bürger*innen, die sich auflehnen. Die ihre Angst und Verletzlichkeit akzeptieren und annehmen, statt sie zu verdecken und verschleiern. Und die aus der Angst Kraft gewinnen für einen Kampf. Den Kampf für gutes Leben in den Städten. Gutes Leben ohne Angst. Ohne Tote und Verletzte. Ein Leben ohne motorisierte Gewalt.

Martin Herrndorf ist freiberuflicher Projektentwickler und Berater in den Bereichen Sozialunternehmertum, Stadtplanung und Bürgerbeteiligung. Er hat in Köln das Colabor / Raum für Nachhaltigkeit mitgegründet und koordiniert bei der Agora Köln, dem Bündnis hinter dem Tag des guten Lebens, die Finanzen und Projektentwicklung. Dieser Text ist ursprünglich bei Radkomm erschienen.