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Radverkehr

Herzlichen Glückwunsch, europäischer Radverkehr…

Heute war in Luxemburg ein Informal meeting of EU ministers for Transport das auch unter dem Titel European Cycling Summit die Runde machte. Deutschland wollte erst gar nicht teilnehmen, hat dann aber doch den parlamentarischen Staatssekretär Norbert Barthle geschickt. Minister Dobrindt war (selbstverständlich) nicht anwesend. Dabei hätte er sicher noch etwas lernen können. Wenn er denn wollte. Vorträge gab es nämlich u.a. von Mikael Coleville-Andersen und Jan Gehl. Mehr Fachkompetenz geht fast nicht.

Eigentlich wollte ich über das Treffen gar nicht schreiben, denn ich halte eine europäische Initiative für wenig hilfreich. Vor allem nicht, wenn es um den Alltagsradverkehr in unseren Städten geht. Zeichen hin oder her. Aber da ich mir gerade die aus dem Treffen resultierende Declaration on Cycling as a climate friendly Transport Mode angeschaut habe, muss ich diese wenigen Sätze doch noch kurz loswerden.

Warum das Ganze nämlich nicht viel bringen wird, steht gleich in der Präambel, in den ersten beiden Sätzen der Erklärung. Sie lauten:

Cycling is a European success story. Bicycle innovation will boost jobs and growth and support EU industry through new technology and services.

Das sind die wichtigsten Vorzüge des Radverkehrs? Jobs und Wachstum? Der Radverkehr wird damit in erster Linie wieder durch die ökonomische Brille gesehen. Bringt es Geld? Dann machen wir da was. Der ein oder andere „Realist“ mag jetzt vielleicht sagen, dass das extra vorangestellt wird, damit man die „Entscheider“ erreicht, für die die wirtschaftliche Komponente eben zählt. Insgesamt ist es aber ziemlich desillusionierend, wenn man daran denkt, dass mit Radverkehr niemals so viel Geld zu verdienen sein wird, wie mit der Autoindustrie. Das ist einfach so. Und das ist ja eigentlich auch einer der großen Vorteile des Radverkehrs – neben den in der Erklärung (der Vollständigkeit halber?) folgenden. Ein leidenschaftliches Plädoyer für den Radverkehr und seine Vorzüge spare ich mir an dieser Stelle. Er passt halt nicht so recht in unser Wirtschaftssystem…

Und jetzt? Das Europäische Parlament soll eine roadmap for cycling erstellen und die Minister und Staatssekretäre, die heute in Luxemburg dabei waren, verpflichten sich dazu, den Radverkehr als eine klimafreundliche und effiziente Verkehrsart zu fördern. Herzlichen Glückwunsch, europäischer Radverkehr!

5 Antworten auf „Herzlichen Glückwunsch, europäischer Radverkehr…“

Der Schlüsselsatz aus der PK:

“Gut, Fahrradinfrastruktur ist jetzt nicht sehr teuer”
(Die Auto- und Federgabel-industrie mag sich da vielleicht die Hände reiben, für alltäglich Radfahrende gilt es jetzt endgültig günstige Tarife mit dem örtlichen Orthopäden zu vereinbaren)

Radverkehr wird in der EU als nice to have „Software“ (o-ton PK) gesehen, die keine großen Kosten verursacht, Schuldenbremsen nicht gefährdet, die die Logistik auf der letzten Meile durch Lastenfahrrad-Billiglöhner kosteneffizienter macht, etc.
Der übliche neoliberal/autozentrierte Sermon.
Hauptanwendungsbereich für „Radverkehr“ ist die Möglichkeit mit nachhaltig-grün-klingender Rhetorik zielgruppenspezifische PR zu betreiben und sich gelegentlich – ganz umweltgerecht – mit häßlichem Styroporhut ablichten zu lassen.

„Hardware“ sind dann die echten Investitionen in die echte Infrastruktur für den echten Verkehr.

Falls jemand weiss wo der Live-stream der PK (habe einen Teil verpasst) konserviert ist, wäre es schön hier einen Link zu posten.
Die Menschen, die die EU nur noch als Projekt von Reichen für die Interessen von Reichen ansehen, werden jedenfalls mal wieder Bestätigung finden können.

Interessant auch, dass unser amtierender Autominister gar nicht erst angereist war.
Aber der ist ja auch genügend mit der Anti-Ausländer-Maut beschäftigt und muss die eingereichten Textbausteine zur Beruhigung der VW-Käufer fleissig auswendig lernen.
Da gilt es schliesslich schnell zu handeln, womöglich behauptet noch jemand, dass die planvoll erhöhten Abgasgifte einige tausend Menschen allmonatlich mit Vorsatz von Industrie und Politik ins Jenseits befördern. Womöglich stellt noch jemand Strafantrag gegen einige Herren in Industrie und Politik nach §325 oder $330 StGB, weil die Politik ja bereits seit 2007 informiert war, und die Vergiftung der Atemluft mit Vorsatz in großem Stil erfolgt war.
Also Krisenkommunikatioin anwerfen:
Bagatellisieren, Nebelkerzen werfen, Personalisieren, Bauernopfer zur Diskussion stellen, eisenharte Kontrollen ankündigen, Fassungslosigkeit simulieren, etc, etc.
Was soll man da seine Zeit mit irgendwelchen Radl-Hanseln vergeuden, wenn noch nichtmal in Aussicht steht, dass die deutschen Leitmedien überhaupt in Ausführlichkeit über so ein unverbindliches EU-PR-Treffen berichten.
Und die Erkennnis, dass Radinfrastruktur „nicht sehr teuer“ ist, die ist in Deutschland ja ohnehin bestens verankert. Wir haben den Wurzelaufbruch mit 20cm Oberbau ja quasi erfunden!
Oder wie Kauder einst feststellte: man spricht wieder Deutsch in Europa.

Auch wenn ich die Fixierung auf wirtschaftliche Kennzahlen auch nicht immer gut finde: Investitionen in den Radverkehr zahlen sich auch ökonomisch aus, das braucht man nicht zu verschweigen. Insbesondere kann der Radverkehr die Kosten des Gesundheitssystems drastisch senken. Außerdem stärken Radfahrer den Handel vor Ort, weil sie häufiger einkaufen. Somit macht sich jeder neu gebaute Kilometer Radweg schnell bezahlt. Und die Autoindustrie schafft zwar tausende Jobs, sie vernichtet aber auch Millionen Menschenleben – im Gegensatz zur Fahrradindustrie. Nicht zuletzt sind bereits etliche spannende Start-ups rund ums Fahrrad entstanden, zum Beispiel Bike Citizens oder Hövding, die für Innovationen sorgen. Fahrrad und ökonomischer Erfolg – das geht Hand in Hand.

Sicher geht das Hand in Hand. Sehe ich genauso. Aber die Maßstäbe sind halt zu klein. Obwohl das eigentlich das ist, was die Welt von vielen Sachen langsam braucht: weniger. Dafür klüger.

Und weniger Kranke bedeutet im Übrigen auch weniger Umsätze im Gesundheitssystem. Klingt pervers, wird aber von dieser Lobby mit Sicherheit nicht gewünscht. Würde ja auch wieder Jobs kosten…

Das ist ein Missverständnis.
Radverkehr ist im Rahmen einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung natürlich ein Gewinn, während Autoverkehr erhebliche Kosten verursacht.
Das steht m.E. auch außer Frage.
http://www.michael-cramer.eu/presse/single-view/article/studie-der-tu-dresden/

Bei der PK ging es aber nicht um eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, oder gar eine umweltokonomische Gesamtrechnung, sondern um die Erstellungskosten von Radverkehrsinfrastruktur.

Das eine hat mit dem anderen in diesem Zusammenhang (leider!!!) nichts zu tun.
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen sind in der EU ziemlich irrelevant. Da geht es in aller Regel nur um die Addition realer oder potentieller betriebswirtschaftlicher Gewinne.
In diesem Sinne hat Daniel in seinem Kommentar m.E. vollkommen Recht: Gesundheitskosten führen zu gesteigertem BIP, und vor allem zu gesteigerten betriebswirtschaftlichen Gewinnen, welche dann die Reichtumskonzentration in den Händen der kleinen Gruppe von Entscheidern noch vergrößert, und den „Anlagenotstand“ vorantreibt.
Dass das natürlich und notwendigerweise wieder auf Kosten der Allgemeinheit geht ist evident, steht aber auf einem anderen Blatt und ist politisch offensichtlich nicht entscheidungsrelevant.

Ins materielle übersetzt läuft die Kernaussage der PK darauf binaus, dass für Radverkehr eine billig-Ausführung von Infrastruktur völlig ausreichend ist.
Es gibt also mehr dessen, was wir schon zur Genüge kennen: umwegige schmale Wegelchen mit unzureichendem Oberbau, Wurzelaufbrüchen, Instandhaltungsdefiziten, billiger einseitiger Führung, etc, etc,
Motto:
— ist ja nur für den Radverkehr, gute Fahrbahnen bauen wir für den echten Verkehr, und da gibt es dann auch genügend EU-Mittel oder ÖPP Projekte, die dann für einen kurzen Zeitraum den „Anlagenotstand“ auf Kosten der Steuerzahler abmildern, aber letzlich natürlich wieder die betriebswirtschaftlichen Gewinne auf Kosten der Allgemeinheit einfahren, woraufhin die Reichtumskonzentration in den Händen der wenigen Entscheider weiter zunimmt, usw, usw. usw. …

Eine grundlegende Substitution von MIV durch Radverkehr ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht (also aus der Sicht ALLER relevanten EU-Institutionen) ökonomisch abzulehnen.
Aller Radverkehrsförderungs-Rhetorik zum Trotz wird in der EU (und auch im Bundesverkehrsministerium) fest davon ausgegangen, dass der MIV und der LKW-Güterverkehr weiter in erheblichem Umfang zunimmt.
Einfach mal in die Zusammenfassung der Verkehrsverflechtungsprognose (Los 3) schauen:

„Die Verkehrsleistung, die wichtigste Kenngröße zur Bestimmung der Verkehrsentwicklung, erhöht sich aufgrund des überproportional wachsenden Fernverkehrs und steigender Fahrtweiten deutlich stärker, nämlich insgesamt von 1.184 Mrd. Pkm in 2010 auf 1.329 Mrd. oder um 12,2 %. Bei Betrachtung allein des motorisierten Verkehrs liegt der Zuwachs bei 12,9 %, was einem durchschnittlich jährlichen
Wachstum von 0,6 % p.a. entspricht.
Die Hauptgründe für die Zunahme der Mobilität liegen auch künftig im Wirtschaftswachstum und in der Individualmotorisierung.“(S.231)
Für den Rad- und Fussverkehr wird sogar entgegen aller ‚Wir tun was für die Umwelt-PR‘ eine Senkung des Verkehrsleistungsbezogenen modal-split vorausgesagt (ebd. S.232).

Eine Verkehrswende ist de facto weder geplant noch gewünscht. Der hippe Radverkehr hat seinen Platz lediglich im Rahmen des green-washing bei Sonntagsreden.
Da allerdings ist er zugegebenermassen immer stärker vertreten.

„Eine Verkehrswende ist de facto weder geplant noch gewünscht“

Danke! Endlich bringt es mal jemand auf den Punkt.
Perfekte Zusammenfassung dessen, was man/frau auf zwei Rädern täglich zu spüren bekommt.

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