[Mit Update ganz unten.]

Es ist wirklich jedes Jahr dasselbe. Die Polizei veröffentlicht die Unfallstatistik des Vorjahres und Journalisten tippen drauf los, dass Radfahrende über den Daumen bei jedem zweiten Unfall Hauptverursacher sind. In der Folge entwickelt sich eine Spirale des Victim Blaming, an dessen Ende man denken könnte, Radfahrende haben nichts anderes verdient, als angefahren zu werden.

Dieses Jahr ging es in der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) mit einem Artikel „Immer nur Opfer? – So oft tragen Osnabrücks Radfahrer die Hauptschuld bei Unfällen“ los (astreines Click-Baiting á la NOZ übrigens), wo man erfahren konnte, dass in 51 Prozent der Unfälle Radfahrer die Hauptunfallverursacher waren. Unter den Pedelec-Fahrern waren es 46 Prozent.

Grundsätzlich gab es bei über 4.052 Unfällen im Stadtgebiet Osnabrück insgesamt 462 mit Fahrrad- und Pedelecbeteiligung, wovon etwa 230 Unfälle den Rad- und Pedelecfahrenden angelastet werden. Das sind insgesamt etwa 11,4 bzw. 5,7 Prozent aller Unfälle. Dass die Polizei die Zahlen nur bei den Radfahrern so genau auseinanderklamüsert und in ihre Pressemitteilung aufnimmt, nehme ich noch wohlwollend als Hinweis hin, dass hier etwas passieren muss, damit sich was ändert. Autos haben halt Unfälle. Naturgesetz. Muss man nicht genauer betrachten.

Überraschung: An 100 Prozent der Alleinunfälle waren allein die Radfahrenden schuld.

Irgendwann scheint dann aber aufgefallen zu sein, dass man bei den Radfahrern ja vielleicht mal die Alleinunfälle rausrechnen muss, um ein aussagekräftiges Bild Unfälle von Radfahrenden mit anderen Verkehrsteilnehmenden zeichnen zu können. Also wurde von der NOZ ein zweiter Artikel nachgelegt. Unter die Überschrift „Das sind die am häufigsten erfassten Vergehen der Radfahrer in Osnabrück“ mogelt sich dann ein entscheidendes Zitat der Polizei Osnabrück, das auf Nachfrage der NOZ geliefert wurde: „Beteiligte bei Alleinunfällen gelten immer als Hauptverursacher.“ (Wobei man auch hier noch untersuchen könnte, ob nicht die Infrastruktur eine Rolle spielt. Als Radfahrer kann man ja auch durch von Wurzeln hochgedrückten Steinen stürzen. Wer trägt dann die Hauptschuld?)

Weiter heißt es im Artikel: „Möchte man also wissen, an vielen Unfällen Radfahrer die Schuld an Unfällen mit anderen Verkehrsteilnehmern haben, muss die Zahl der Fahrradunfälle ohne Fremdeinwirkung herausgerechnet werden.“ Zwar sei diese Auswertung laut Polizei Osnabrück leider nicht möglich (auch ich habe da noch keine Rückmeldung, nachdem ich bereits nach dem ersten NOZ-Artikel bei der Polizei angefragt hatte), aber es gibt bei der NOZ immerhin den Verweis auf bundesweite Zahlen. Demnach sind Radfahrer bei Unfällen mit Autos nur zu 23,4 Prozent Hauptverursacher, bei Unfällen mit Lkw sogar nur zu 18,8 Prozent (mit Fußgängern zu 59,5 Prozent und Krafträdern zu 51,7).





Das lässt die ganze Statistik schon in einem ganz anderen Licht erstrahlen. Das Kind war da aber natürlich längst in den Brunnen gefallen. In den Kommentarspalten hatte die übliche Dynamik eingesetzt und sogar Leserbriefe haben es ins Blatt geschafft. Einer davon kommt von Ludwig S. und eine kurze Google-Suche ergibt, dass der gute Mann inzwischen 83 Jahre alt ist. Das bestätigt meine Vermutung beim Lesen, dass er verkehrstechnisch in den automobilen 1950er und 1960er Jahren sozialisiert wurde und aus der damaligen Denke, das Auto stehe nun über allem, auch nicht mehr herausgefunden hat. „Vielleicht sollten sich die Radfahrer darüber im Klaren sein, dass sie die schwächsten Teilnehmer im Straßenverkehr sind. Wenn ich der Schwächste bin, muss ich besonders vorsichtig sein und auch notfalls auf meine Vorfahrt verzichten. (…) Ich halte es mit der Devise, der Schwächere und Klügere gibt nach. Vielleicht hilft meine Anregung, dass einige Radfahrer ihre Fahrweise überdenken.“

Der Schwächste muss am vorsichtigsten sein. Das Recht des Stärkeren halt…

Herr S. scheint mir das Musterbeispiel für das Recht des Stärkeren zu sein. Ich kann ihn mir sehr gut im Auto vorstellen, wie er einen vorfahrtberechtigten Radfahrer sieht, sich aber denkt, dass dieser ihn schon vorbeilassen wird. Schließlich ist der Radfahrer ja schwach und klug. Oder wie er einen Radfahrer mit 20 Zentimetern Abstand überholt, weil das ja passt und der schwache (und vielleicht doch nicht so kluge?) Radfahrer ja sowieso noch weiter rechts hätte fahren können (allerdings nicht dürfen, weil man Abstand zum Fahrbahnrand halten muss. Aber das war 1958 vielleicht noch anders).

Natürlich muss ich als Radfahrer vorsichtig sein. Aber muss ein Autofahrer, von dem viel mehr Gefahr ausgeht, nicht noch viel vorsichtiger sein? Ohnehin hinkt die Argumentation gewaltig. Bei einem Unfall, bei dem der Radfahrer nicht auf seine Vorfahrt verzichtet hat, ist er ja definitiv nicht der Unfallverursacher. Herr S. erwartet hier also grundsätzlich eine devote Fahrweise von Radfahrern, die Autofahrern bitteschön nicht in die Quere kommen sollen. Ob sie Vorfahrt haben oder nicht.

Es steht außer Frage, dass es auch Radfahrende gibt, die sich mitunter nicht an Regeln halten. Wenn man Fehlverhalten und daraus resultierende Unfälle aber bewerten will, dann muss man schon genau hinschauen. Aber wie gesagt, es ist jedes Jahr wieder dasselbe…

Update 3. Mai 2021

Ich habe nun doch noch Zahlen von der Polizei bekommen. Danke dafür. Und daraus ergeben sich 104 Alleinunfälle – 81 bei Rad- und 23 bei Pedelecfahrenden. Zieht man die bei der Zahl der Unfallverursacher ab, was man tun sollte, wenn man die Schuld- und Präventionsfrage näher beleuchten will, bleiben nicht mehr 230 sondern „nur“ noch 126 übrig. Und damit ändert sich auch die oben so kritisierte Prozentzahl deutlich: Rad- und Pedelecfahrende sind jetzt nicht mehr an rund der Hälfte der Unfälle schuld, sie trifft zusammengenommen „nur“ in 27 Prozent der Unfälle mit Fremdbeteiligung die Schuld.

Aber wer liest das jetzt schon noch? Ludwig S. bestimmt nicht. Das Bild der „Kampfradler“ und „Rad-Rowdies“ hat man sich mit der irreführenden Zahl in der ersten Berichterstattung längst wieder bestätigt. Und statt sich bei Verkehrskontrollen mit dem Schwerunkt Radverkehr die Hauptverursacher genauer anzuschauen (eben nicht die Radfahrenden), wird dann wahrscheinlich wieder geguckt, ob auch wirklich alle Reflektoren und eine Klingel am Rad sind.