Ich habe auf einer Fahrt nach Berlin gerade eine wunderbare kleine Zuglektüre dabei. Die promovierte Politikwissenschaftlerin und ehemalige Chefredakteurin der radzeit, Kerstin E. Finkelstein, gibt in „Straßenkampf – Warum wir eine neue Fahrradpolitik brauchen“ einen Überblick über die deutsche Verkehrspolitik, die Folgen der Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs und fordert, das Radfahren attraktiver zu machen. Finkelstein reiht Fakt an Fakt in kleinen Kapiteln, die man nicht einfach so weglesen sondern durchaus mal ein paar Minuten drüber nachdenken sollte. Auch und gerade in Bezug auf sein/ihr eigenes Verhalten. Das ist mal erhellend, mal erschreckend und immer wieder bestätigend für jemanden, der sich bereits mit dem Thema Radverkehr beschäftigt. Als kleinen Einblick, was euch erwartet, darf ich hier das Vorwort veröffentlichen.

Schöne Meinung!
Gibt es die auch mit Ahnung? – Vorwort

Ich bin Radfahrerin, fast immer, und fast überall. In meiner Kindheit und Jugend fuhr ich auf dem Rad zur Schule und konnte die nahe Kleinstadt ein paar Hundert Meter vor dem Ortsschild schon riechen. Während der Studienzeit genoss ich die Freiheit, dank des Rades jederzeit nach Hause fahren zu können, ohne auf Fahrpläne oder konsumierte Getränke achten zu müssen. Beruf lich fuhr ich schon an Krokodilen in Burkina Faso vorbei, fuhr bei Vollmond in der Sahara und ließ mich in Chinas Chengdu von örtlichen Guides zwecks Abkürzung ein Stück auf die (nicht abgesperrte) Autobahn führen. Meine Begleiter störten sich nicht an den vorbeirauschenden Lkw.

Inzwischen fahre ich vor allem in Berlin, zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. Und bin oft nicht mehr allein unterwegs – was die Messlatte dieses Buches beeinflusst. So war für mich vor wenigen Jahren noch eine lebenswerte Stadt ein Ort, an dem eine Frau mit Minirock nachts um vier Uhr allein sicher nach Hause radeln kann. Inzwischen will ich mehr: eine Stadt, in der ein kleines Kind tagsüber mit seiner Mutter sicher zur Kita und zum Spielplatz radeln kann. Und in der es ein paar Jahre später allein sicher zur Schule und zu seinen Freunden fahren kann.

In deutschen Städten sehen wir uns stattdessen dem Ergebnis von Jahrzehnten autofreundlicher und damit menschenfeindlicher Politik gegenüber. Hier werden die Kinder zu ihrer körperlichen Sicherheit in die ständige Aufsicht ihrer um eine Armlänge entfernten Eltern eingesperrt, damit die Autos frei spielen können. Viele Kinder kennen auch das Elterntaxi besser als den Geh- oder Radweg. Gesund ist das nicht. Klimafreundlich auch nicht. Ja nicht einmal ökonomisch sinnvoll. In Deutschland wird nach wie vor der motorisierte Individualverkehr von der Politik gefördert, subventioniert und allen anderen Verkehrsmitteln vorgezogen. Das Ergebnis ist eine steigende Anzahl von Pkw sowohl in Großstädten als auch in Deutschland insgesamt.

Viele Menschen haben jedoch genug von der künstlichen Verknappung öffentlichen Raumes und menschlichen Lebens zu Gunsten des Autoverkehrs und wollen ihre Alltagswege sicher und bequem beschreiten. Sie haben das Bedürfnis, wieder einigermaßen zivilisiert miteinander umzugehen, und wollen halbwegs gesund alt werden, anstatt übergewichtig mit hohem Blutdruck und schmerzendem Rücken ihre Lebenszeit in überfüllten Wartezimmern zu verbringen. Sie wollen ihre Kinder in Freiheit aufwachsen sehen und vielleicht sogar dafür sorgen, dass ihre Enkel noch Radfahren lernen können.

Das Fahrrad ist schon 200 Jahre alt und bietet doch eine Lösung für alle diese Themen. Radfahren produziert im Verhältnis zum Auto nur minimal CO2 und Feinstaub. Es ist kommunikativer und sozialer – ein Radfahrer hört und riecht nicht nur mehr von seiner Umwelt, er verbraucht auch deutlich weniger Fläche. Zudem fördert Radfahren die Gesundheit – die eigene wie die der anderen. Und es sieht super aus: Mit einem stylischen Rad über der Schulter am Eiscafé vorbeizuschlendern, ist deutlich cooler, als auf der Suche nach einem Parkplatz alle Gäste dreimal mit einer Abgasfahne zu belästigen.

In deutschen Städten sehen wir uns dem Ergebnis von Jahrzehnten autofreundlicher und damit menschenfeindlicher Politik gegenüber.

Die Wirklichkeit wird jedoch vom Auto bestimmt, und das ist schädlich. Obschon sich die Straßenverkehrsordnung an den Bedürfnissen des motorisierten Verkehrs zu Ungunsten aller anderen Verkehrsteilnehmer orientiert, begehen Autofahrer die meisten Regelverstöße und verursachen die Mehrheit der Unfälle. Sie beanspruchen den Großteil aller öffentlichen Flächen und zahlen nicht für die selbst verursachten Kosten. Und trotz immer effizienteren Motoren ist der Verkehrssektor mit hauptverantwortlich dafür, dass die selbstgesteckten Klimaziele nicht erreicht wurden und werden, da die Zahl der Kraftfahrzeuge (Kfz) ständig zunimmt.

Sollten Sie schon mit Freude und Überzeugung Rad fahren, dann genießen Sie den Ritt durch den Faktenregen dieses Buches, der Ihre Meinung mit Argumenten und Belegen fundiert. Sollten Sie noch täglich Auto fahren, machen Sie das Fenster auf und lassen auf der Fahrt durch die folgenden Seiten ein paar neue Perspektiven und Fakten ihre Gedanken streifen – vielleicht entledigt Sie das nicht nur von einigem Groll, sondern lässt Sie einmal aus- und umsteigen. Genießen Sie dann die neue Freiheit: Nie wieder Stau! Nie wieder Parkplatzsuche! Stattdessen pure Lebensfreude an der eigenen, strotzenden Kraft. Und sollten Sie Politiker oder sonstiger Entscheider sein: Sorgen Sie endlich dafür, dass unsere Städte frei von giftigen Abgasen, Lärm und tonnenschweren Gefahren werden.

Alles bloße Meinungsmache? Nein, denn es tobt ein tödlicher Kampf in Deutschlands Verkehr. Und es wird Zeit, ihm eine Wendung zu geben, hin zu mehr Lebensfreude, Sinnlichkeit und Glück.

Straßenkampf – Warum wir eine neue Fahrradpolitik brauchen
Kerstin E. Finkelstein
Februar 2020
184 Seiten, Broschur
Ch. Links Verlag