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Radverkehr

„Der Radverkehr ist ein Seismograf der Urbanität“

Wie sieht der Stadtverkehr der Zukunft aus? Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt zeigt mit der Ausstellung „Fahr Rad! Die Rückeroberung der Stadt“, warum am Fahrrad kein Weg vorbeiführt.

Wie sieht der Stadtverkehr der Zukunft aus? Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt zeigt mit der Ausstellung „Fahr Rad! Die Rückeroberung der Stadt“, warum am Fahrrad kein Weg vorbeiführt.

Von Judith Reker

Weltweit werden Städte größer und enger: Seit 1950 hat sich die Stadtbevölkerung verdoppelt, seit 2007 lebt über die Hälfte der Menschheit in urbanen Zentren. Nach Schätzungen der UN werden es 2050 zwei Drittel sein. Damit das Stadtleben lebenswert bleibt, braucht es viel Raum – Plätze, Grün- und Freiflächen. Doch gerade die Verkehrswege der oft alten Stadtzentren stoßen schon jetzt an ihre Grenzen. Die Ausstellung Fahr Rad! Die Rückeroberung der Stadt des Architekturmuseums in Frankfurt zeigt am Beispiel von Städten wie Kopenhagen, New York, Karlsruhe und Oslo, wieso das Fahrrad das Verkehrsmittel der Zukunft sein könnte. Ein Gespräch mit den Kuratorinnen Annette Becker und Stefanie Lampe.

COBE und Gottlieb Paludan Architects: Nørreport Station, Kopenhagen/Dänemark, 2015
Foto: Lars Rolfsted Mortensen

„Die Rückeroberung der Stadt“ – dieser Untertitel klingt, als ginge es darum, einen Zustand wiederherzustellen, den es einmal gegeben hat. Liegt unsere Zukunft etwa in der Vergangenheit?

Annette Becker: „Rückeroberung“ bezieht sich im Wesentlichen auf das Platzangebot. Ich habe kürzlich ein Ölgemälde aus dem 19. Jahrhundert gesehen, darauf war eine Straße in Paris abgebildet, die heute noch benutzt wird. Auf dieser großen Straße fuhr eine Kutsche. Eine einzige. Für dieses Verkehrsaufkommen am Ende des 19. Jahrhunderts sind viele unserer Straßen angelegt. Aber in der Zwischenzeit hat sich natürlich viel verändert. Insofern geht es um eine Rückeroberung, nämlich des Platzes.

Die Verkehrsforscherin Barbara Lenz hat geschrieben, „Rückeroberung“ klinge fast nach einem Feldzug.

Becker: Es geht uns nicht darum, Lobbyarbeit für den Radverkehr zu machen. Aber uns ist etwas Entscheidendes aufgefallen, als wir die vielen internationalen Projekte zu einer zeitgemäßen Mobilität durchgeschaut haben: Der Radverkehr ist ein Seismograf der Urbanität. Wenn man in einer Stadt gut Rad fahren kann, wenn es also gute Radwege und auch genug Grünflächen gibt, dann ist das ein Hinweis auf eine Stadt, die eine hohe Lebensqualität besitzt. Deswegen scheint es uns sinnvoll, diese radgerechte Stadt zu forcieren.

Wie ist die Stimmung dazu in der deutschen Gesellschaft: Besteht ein Konsens, dass ein fahrradgerechter öffentlicher Raum das ist, was wir haben wollen?

Becker: Es ist ein Thema, was nicht jeden unmittelbar interessiert. Viele Menschen sind vor allem daran interessiert, wie sie ihre ganz persönliche Mobilität gut hinkriegen. Aber so können Sie natürlich keine Stadt, kein Gemeinwesen entwickeln. Ich würde sagen, es besteht Konsens, dass wir unsere Mobilität in irgendeiner Weise verbessern müssen – spätestens dann, wenn man jeden Morgen in einem langen Stau in die Stadt hineinfahren muss.

Stefanie Lampe: Hinzu kommt: Die meisten Städte wachsen, das 21. Jahrhundert wird auch das Jahrhundert der Städte genannt. Jeder im eigenen Auto – das ist beim heutigen Verkehrsaufkommen einfach keine Option mehr. Zahlreiche Bürgerinitiativen wie die sogenannten Radentscheide zeigen, dass immer mehr Leute feststellen: Da muss etwas getan werden. Bei den Radentscheiden in verschiedenen deutschen Städten fordern engagierte Bürger eine Verbesserung des Radverkehrs. In Berlin wurde bereits erreicht, dass es ein erstes Radgesetz gibt. Es wurde 2018 beschlossen und legt fest, dass die Stadt den Radverkehr fördern muss.

Becker: Es geht uns nicht darum, die Autos zu verteufeln. Uns ist an einer friedlichen Koexistenz gelegen. Aber das entscheidende Moment dieser friedlichen Koexistenz sind unsere Straßenräume – und die können Sie nicht vergrößern.

NEXT architects and rudy uytenhaak + partners: Dafne Schippers Brücke, Utrecht/Niederlande, 2017
Quelle: NEXT architects / Foto: Jeroen Musch

Welche Argumente neben dem Platzproblem sprechen noch für das Fahrrad?

Becker: Es ist schnell und unkompliziert, und es macht Spaß.

Lampe: Es ist gesund und leise. Und schließlich: die Umwelt. Allerdings ist der Umweltaspekt nicht der, der die Leute aufs Fahrrad bringt. Das zeigen Umfragen in Fahrrad-Städten wie Groningen und Kopenhagen: Die Leute nehmen das Rad, weil es – zumindest auf kürzeren Strecken – das schnellste und praktischste Verkehrsmittel ist.

Sprechen wir über Ästhetik: Wird das Stadtbild schöner, wenn der öffentliche Raum stärker durch das Rad geprägt ist?

Lampe: Wir denken, dass der öffentliche Raum auch schöner wird, ja. Ich glaube, wir haben gute Beispiele gefunden, die das demonstrieren. Als Architekturmuseum war uns natürlich wichtig, auch gestalterisch hochwertige bauliche Projekte zu zeigen.

Gibt es unter den acht für die Ausstellung ausgewählten Beispielen aus Europa und einigen anderen Regionen eins, dessen Ästhetik Sie persönlich besonders begeistert?

Lampe: Barcelona.

Becker: Barcelona. Der Boulevard Passeig de St. Joan ist einfach unglaublich. Bei diesem Projekt gehen Stadtplanung, Verkehrsplanung und vor allem die Landschaftsarchitektur beispielhaft zusammen und schaffen neue qualitätsvolle Aufenthaltsräume. Mit vielen Sitzgelegenheiten, neuen Grünflächen und Spielplätzen wird der öffentliche Raum für alle aufgewertet, nicht nur für Radfahrer. Es gibt Städte, die in gestalterischen Fragen immer ganz vorn mitspielen und Barcelona gehört auf jeden Fall dazu.

Der Begriff „öffentlicher Raum“ ist in Deutschland auch philosophisch besetzt. Philosophen wie Jürgen Habermas und Hannah Arendt haben Öffentlichkeit unter anderem als politischen Faktor untersucht. Einfacher gefragt: Wenn weniger Menschen in Autos, also in ihren eigenen vier Wänden abgeschottet durch die Gegend fahren, was bedeutet das für gesellschaftliche Kommunikation?

Lampe: Wir sehen definitiv das Potenzial für eine Veränderung. Das Fahrrad ist eben auch ein soziales Verkehrsmittel. Mit dem Rad bin ich nicht in einer stählernen Kapsel unterwegs, sondern ich interagiere mit dem Raum und den Menschen um mich herum. Ich erfahre, im wörtlichen Sinn, den Stadtraum anders, nehme ihn anders wahr. Das hat auch mit der veränderten Geschwindigkeit zu tun: Je schneller ich einen Raum durchquere, desto weniger nehme ich von ihm wahr.

Radschnellweg Ruhr RS1, Niederfeldsee in Essen
Foto: Opterix, Johannes Kassenberg

Autorin

Judith Reker ist freie Journalistin in Frankfurt am Main.

Copyright: Text: Goethe-Institut, Judith Reker. Dieser Text ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz und zuerst hier erschienen.
Creative Commons Lizenzvertrag
Juli 2018

7 Antworten auf „„Der Radverkehr ist ein Seismograf der Urbanität““

Gerade die Vielzahl an Bürgerentscheiden zeigt’s ganz schön: Die intrinsische Motivation der Städte in Deutschland, den öffentlichen Raum bürgerfreundlich statt autofreundlich zu gestalten geht nach wie vor praktisch gegen Null und das obwohl durch verschiedene Umfragen längst bekannt ist, dass die fahrradfreundliche Transformation unserer Städte mittlerweile bei Zustimmungswerten um die 80% einpendelt.

http://itstartedwithafight.de/2015/03/30/82-prozent-der-deutschen-fur-weniger-autoverkehr-in-der-stadt/
https://www.adfc.de/presse/pressemitteilungen/gfk-umfrage–mehr-platz-fuer-begegnungen-weniger-fuer-autos

Viele Kommunen sehen sich aber trotz eindeutiger Mehrheit nach wie vor nicht genötigt, überhaupt etwas grundlegend an der autozentrierten Stadt-/Verkehrsplanung zu verändern. Allenfalls wird hier und da mal ein Radweg auf die Straße gepinselt und der Autoverkehr auf Eindreiviertel Spuren „verengt“, oder es werden ein paar Haltebügel zwischen Kilometerlange Parkplatzkolonnen montiert. Von Radvorrangrouten, sicheren Kreuzungsdesigns oder eigenen hochwertigen und exklusiven Cycle-Grids sieht man in Deutschland nach wie vor viel zu wenig.

Bemerkenswert ist, dass dort wo die Transformation wirklich greift, das Radfahren häufig fast schon kultisch oder zumindest als traditionell verklärt wird – nicht selten verbunden mit dem Alleinvertretungsanspruch für innovative Radkultur, der sich schnell aber auch wieder totläuft, wenn er nicht dauerhaft und nachhaltig hinterfüttert wird, wie z.B. in München mit der „Radlhauptstadt“.

Fazit: Radverkehrsförderung und Radkultur darf kein Mittel zum Zweck zur Aufrechterhaltung autogerechter Städte sein und auch kein Gamification-Gag, wenn die Transformation (RVA > 35%) gelingen soll. Oder anders rum: Dauerhafte Transformation entsteht nur durch radikal neue Denkweisen oder durch Druck von der Straße, deswegen: berlinize Germany – Go Bamberg go!

‚Transformation‘ misst sich meiner Meinung nach definitiv nicht am sogenannten „Radverkehrsanteil“.
Wozu soll denn das gut sein?
Dass steigender „Radverkehrsanteil“ (in MS sogar deutlich oberhalb Deiner 35%) mit exzessivem Autoverkehr und auch zusätzlich mit einem weiteren Wachstum des Autoverkehrs einhergeht bzw. einhergehen kann, dürfte sich doch langsam rumgesprochen haben?
(MS ist ja auch mit seinen 40% Radverkehrsanteil in der Ausstellung zum Ärger des MS-Stadtmarketings in Frankfurt aus guten Gründen nicht dabei)

„Transformation“ des Verkehrssektors und der Räume im 21 Jhd. muss vor allem Eines sein:
SEHR deutliche Reduktion der MIV Verkehrsleistung und Reduktion des verkehrsintensiven Fernhandels (der berühmte Yoghurtbecher mit 10.000 KM Transport im EU-Binnenmarkt).
Wie sich dann der Nicht-MIV aufteilt (Verkehrsreduktion, Fuss/Rad/ÖPNV) ist für eine ‚Transformation‘ nicht wirklich relevant.
Oder ist etwa Wien als lebenswerteste Weltstadt mit 6% Radanteil unattraktiver als Amsterdam?

Ich selbst bin zwar bekennend ‚rad-affin‘, aber ohne sehr guten Fussverkehr und ohne inklusiven gut getakteten ÖPNV ist eine echte Transformation schlicht unmöglich.
Zwar ist Radverkehr sicher mehr als ein ’nice to have‘, aber im Zentrum unserer Umwelt und Lebenswelt muss die Befreiung von der antisozialen und umweltzerstörenden Bürde des Automobilismus stehen.

Also eben NICHT die übliche Kopplung von hohem „Radverkehrsanteil“ mit gleichzeitig hoher Fahrleistung und Parkdichte des MIV.

Klar, Transformation ist ja kein allgemeingültiger Begriff hinsichtlich Stadtplanung und Verkehrsentwicklung. Teilweise wird er ohnehin in einem ganz anderen Kontext verwendet, z.B. in Bezug auf Kollaboration und solidarische Stadtgesellschaft – was ich persönlich eher unter Transformation subsumiere, nämlich den Prozess der wieder aneignenden, emanzipatorischen und bürgerlichen Stadtraumgestaltung gegen das etablierte Bürgertum. Der Bürgersteig als solcher entspringt übrigens genau dieser Ideologie (Wikipedia):

In der bürgerlich-industriellen Gesellschaft entwickelten sich das Spazieren und das Flanieren als Freizeitbeschäftigungen. Der Konflikt um die Verkehrsräume war aber auch eine Auseinandersetzung zwischen den oberen und unteren Gesellschaftsschichten, denn in den Kutschen saß die Herrschaft. Aufklärung und Französische Revolution brachten auch eine Emanzipation des Fußgängers und eine Blütezeit der Fußreisen und des Flanierens. Im Paris von 1789 entstand die Idee einer Republik der Fußgänger. Der Bürgersteig war Teil des Rufes nach Bürgerrechten und einer Emanzipation des Bürgertums (deswegen heißt er auch Bürgersteig).

Aus diesem Blickwinkel heraus, hege ich auch Sympathien für die VC-Bewegung als solche und das Thema Reclaim the Streets. Nur war eben VC meiner eigenen Erfahrung nach (ja ich war und bin es hin und wieder noch auch VC-Aktivist) bisher kein geeignetes Mittel, um Transformation einzuläuten. Die von mir genannten 35% halte ich persönlich für den Punkt, ab dem sich Radverkehr als dominante Verkehrsart etablieren wird und politisch wahrgenommen bzw. gefördert wird. Allein aus zwei Gründen ist die Forderung nach Mischverkehr praktisch unumsetzbar:

Tempo 30 als Richtgeschwindigkeit innerorts lässt sich politisch nicht umsetzen
Selbst wenn man tatsächlich irgendwann einmal alle baulichen Voraussetzungen geschaffen hat, damit man von 8 bis 80 auf der gemeinsamen Fahrbahn reisen kann, gibt es immer noch zu viele Störfaktoren, die Unaufmerksamkeit begünstigen (Tabletten, Rauschmittel, Ablenkung durch Smartphones, Überforderung von Fahranfängern, Stresssituationen, Einschränkungen älterer Verkehrsteilnehmer, usw. usf). Ein sicherer gemeinsamer Verkehrsraum ist deshalb mMn Utopie selbst bei T30.

Dazu kommt, dass neben dem Rad eine Vielzahl anderer neuer umweltfreundlicher Fortbewegungsmittel auf Ihre “Emanzipation” warten. Wer möchte schon die immer häufiger zu sehenden Tretroller, die E-Rollstühle, Hoverboards oder Monowheels, die E-Lastenräder und was sonst noch alles auf die Straße schicken? Ernst gemeinte Inklusion braucht definitiv eigene Räume, weswegen ich ungerne von Radwegen spreche, sondern lieber von Umweltspuren, auf denen sich alle Tummeln, die wie Du das eben auch forderst, umweltfreundlich ohne herkömmliche PKW fahren möchten.

Bezüglich Deiner Aussage (Ich nehme das angeboten Du einfach mal an): „Transformation“ des Verkehrssektors und der Räume im 21 Jhd. muss vor allem Eines sein:
SEHR deutliche Reduktion der MIV Verkehrsleistung und Reduktion des verkehrsintensiven Fernhandels (der berühmte Yoghurtbecher mit 10.000 KM Transport im EU-Binnenmarkt). bin ich natürlich fein, aber ich bin bezüglich der realistischen Umsetzung mittlerweile eben sehr viel skeptischer, denn die Forderung einer Beschränkung oder Lenkung des überschäumenden Hurra-Automobilismus (Freie Fahrt für freie Bürger als Sinnbild für Freiheit und Selbstbestimmung) ist hierzulande mMn politisch nicht opportun.

Deswegen stehe ich als (selbsternannter) Cycling Advocate natürlich auch nicht für die Aufrechterhaltung eines aus meiner Sicht längst anachronistischen Mobilitätsmixes, aber ich sehe auch die historische Perspektive und die politische Gemengelage in Deutschland. Das lässt mich eben zu dem Schluss kommen, dass es zwar wünschenswert wäre den PKW-Verkehr aktiv einzudämmen und den Nahverkehr ideal mit dem Rad zu verschränken, aber ohne politisches Mandat und ohne politische Mehrheiten kommt man damit nicht durch.

Es gibt eben leider nur sehr wenige Enrique Peñalosa, Anne Hildalgo, Boris Johnson und wie sie alle heißen. Deshalb: Wenn es um Radverkehr geht, geht bürgerliche Emanzipation eben in Richtung Wiederaneignung eigener Räume, wie eben vor zweihundert Jahren beim Bürgersteig, dafür bediene ich mich auch Hin und wieder der Mittel der Vehicular Cyclists.

Was man auf dem RS 1-Bild nicht sieht: Der zukünftige RS 1 verläuft da auf einem alten Bahndamm in ausreichender Breite. Dieser wurde im Bereich des Sees abgerissen. Nun hat man etliche Höhenmeter zusätzlich eingebaut und eine Engstelle (Brücke auf der gerne Fußgänger*innen stehen). Anstatt also im Alltag dahinzufahren, wird man unterbrochen und muss aufpassen, keine Unfall mit einem Fußgänger zu haben.

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