Die Philosophie des RadfahrensPhilosophie und Radfahren, passt das zusammen? Eigentlich schwingt man sich ja nach getaner Arbeit gerne mal aufs Rad um den Kopf von eben jenem Philosophieren wieder frei zu bekommen. Doch in der Essaysammlung Die Philosophie des Radfahrens, die im Mai im mairisch verlag erscheit, bringen internationale Autoren aus verschiedenen Disziplinen – Philosophieprofessoren, Sportjournalisten, Radprofis – diese beiden Welten (endlich?) zusammen.
Der Verlag war so nett und hat mir vorab ein Rezensionsexemplar zukommen lassen. Und ich muss sagen, Philosophie wird kurzweilig. Man muss sich hier nicht durch lange Textpassagen quälen um zu den für einen selbst interessanten Stellen vorzudringen. Man kann sich bequem einzelne Beiträge herauspicken. Und die bringen es auf den Punkt! Es ist für jeden etwas dabei. Es gibt u.a. einen historischen Überblick, den heute notwendigen Blick auf die Rivalität zwischen Fahrrad und Auto in der Stadt, ein Ländervergleich oder auch Geschichten aus dem Radsport über Leistung und Doping.

Ein kleiner Einblick:

Maximilian Probst beginnt seinen Essay “Der Drahtesel – Die letzte humane Technik” mit dem Zusammenhang von Fahrrad und Revolution in seiner Kindheit. “Revolutionen sind Umstürze – und war es nicht diese Erfahrung des Umsturzes, der wir uns aussetzten, als wir lernten, Fahrrad zu fahren?” Natürlich denkt man so nur im Rückblick über seine ersten Fahrversuche. Aber die Idee der Revolution scheint nicht so weit hergeholt, denn aktuell erleben wir in Bezug auf das Fahrrad ja wieder so etwas wie eine Revolution, nämlich bei der Mobilität im urbanen Raum. Weg von unserer gefeierten zivilisatorischen Errungenschaft “Auto”, hin zur “letzten humanen Technik“, dem Fahrrad! Und somit schreibt Probst ein kleines Plädoyer für die einzige “ehrliche” Form der Fortbewegung, bei der der Mensch noch selbst für sein Vorankommen sorgt.

Ein sehr guter und informativer Beitrag kommt von Zack Furness. In “Critical Mass gegen die Automobilkultur” gibt er einen Überblick über das, was so schwer auf den Punkt zu bringen ist – die Critical Mass. Es geistern zahlreiche schwammige Definitionen durch die Welt, aber alle beschreiben dasselbe Phänomen – eine Horde gut gelaunter Radfahrer, die den öffentlichen Raum vorübergehend “in Besitz nehmen”.
Critical Mass biete zwar keine Lösung für die tatsächlichen Verkehrsprobleme, sei aber “in der Lage, Voraussetzungen zu schaffen, unter denen Menschen aktiv Fahrräder einsetzen, um öffentliche und soziale Räume neu zu denken, zu verstehen und letztendlich auch zu nutzen“. Aber, so zitiert Furness die Mitbegründerin des Pro-Fahrrad-Netzwerks Shift in Portland, Amy Stork: “Ich schätze Critical Mass wirklich, da es gut ist, einen radikalen Flügel zu haben, wenn man einen Kulturwandel bewirken will, denn dieser bewegt die Leute dazu, sich in die Mitte zu begeben. Wenn die Leute Critical Mass sehen und ihnen die Bewegung radikal vorkommt, dann erscheint ihnen die Errichtung eines Fahrradweges vernünftig. In Gegenden, wo es Critical Mass nicht gibt, kommt ihnen ein Fahrradweg radikal vor.“

In “Dem Paradies so nah” erklärt Holger Dambeck, warum Kopenhagen und Amsterdam wohl die Welthauptstädte für Fahrradfahrer sind. Dazu gehört natürlich der politische Wille, das Fahrrad mindestens auf eine Stufe mit dem Auto zu stellen. Oder auch die Besonderheit, dass sich Verkehrsplaner in Kopenhagen nicht nur für die harte Infrastruktur interessieren, sondern auch regelmäßig nach den Befindlichkeiten der Radler fragen. “Wie sicher fühlen sie sich? Was stört sie? Wovor haben sie Angst? Was gefällt ihnen?” So wird das Radverkehrsnetz laufend modernisiert, ein Prozess also, der mit einem fertigen Radweg nicht abgeschlossen ist.
Historisch gesehen haben Kopenhagen und Amsterdam heute einen großen Vorteil gegenüber deutschen Städten – sie haben in den 1970er Jahren den großen Fehler der autofreundlichen Innenstadt vermieden. Allerdings nicht, weil die Stadtplaner es so wollten. Nein, auch sie haben geplant wie überall in Europa. Aber im Gegensatz zu Deutschland haben Kopenhagener und Amsterdamer Bürger dagegen protestiert. Und somit schon vor 40 Jahren die Grundlage für die heutige Fahrradfreundlichkeit gelegt. Laut Dambeck hinkt Deutschland in dieser Hinsicht nun mindestens 15 bis 20 Jahre hinterher.
Bei uns sind Fahrrad und Auto Gegner, in Dänemark und den Niederlanden ist das Fahrrad der kleinste gemeinsame Nenner!

In “Philosophische Lektionen vom Radfahren in der Stadt und auf dem Land” erklärt der Isländer Robert H. Haraldsson die drei Lektionen, die er beim Radfahren in seiner Heimat gelernt hat. Es könnte auch der Leitessay des Buches sein. Lektion Nummer 1 verbindet Philosophie und Radfahren direkt. Haraldsson philosophiert mit seinen Kollegen so lange über das Radfahren, bis er sich zur Untermauerung seiner Argumente schließlich selbst ein Velo zulegt. Die zweite Lektion handelt von Dingen, die Haraldsson in vier Jahren bike-to-work gelernt hat, frei nach dem Motto “Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung”. In der dritten Lektion erfährt man, wie Haraldsson im isländischen Hochland einen “Intensivkurs in freiwilliger Armut absolviert“: “Irgendwas wird aufgewühlt tief drinnen, in den Gedanken, wenn man tagelang allein [mit dem Fahrrad] durch die graue Wüste fährt. Wenn man nichts hat und alle weltlichen Besitztümer nicht greifbar sind, ist man auf sich selbst und seine eigenen Ressourcen gestellt.“

Und wenn das Buch die Philosophie schon im Titel trägt, darf ein wenig “Geschwafel” natürlich auch nicht fehlen. Das findet sich meiner Meinung nach in “Radfahrer werden” von Steen Nepper Larsen.

Die Philosophie des Radfahrens ist über weite Strecken ein kurzweiliges Buch, das man aufgrund seiner Struktur immer wieder hervor holen kann. Die Essays sind schnell gelesen, regen teilweise zum Nachdenken an oder sind einfach eine schöne Lektüre für zwischendurch. Eine gelungene Zusammenstellung. Fahrrad und Philosophie – geht also doch!
Wer jetzt noch eine Leseprobe braucht, der bekommt sie hier!


Die Philosophie des Radfahrens
J. Ilundáin-Agurruza / M. W. Austin / P. Reichenbach (Hg.)
Aus dem Englischen von Roberta Schneider, Blanka Stolz u.a.
Hardcover mit Lesebändchen und Titelprägung – 208 Seiten
Mai 2013