237 Städte und Gemeinden haben sich inzwischen der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ angeschlossen und fordern, frei darüber entscheiden zu dürfen, wo sie auf ihrem Gebiet Tempo 30 anordnen. Denn die bisherige Befugnis ist sehr begrenzt. Es muss zum Beispiel ein Kindergarten oder ein Altenheim in unmittelbarer Nähe sein, um das Tempo zumindest abschnittsweise drosseln zu dürfen. Flächendeckend ist es praktisch gar nicht möglich.
Landauf, landab gibt es wahrscheinlich tausende Beispiele für den zähen Kampf für mehr Tempo 30. Osnabrück hat lange versucht, in der Lotter Straße Tempo 30 als Verkehrssicherheitsmaßnahme anzuordnen. Hier ist kein Platz für sichere Radwege und noch nicht mal für beidseitige Schutzstreifen. Also wollte man zumindest das allgemeine Tempo auf sage und schreibe 700 Metern drosseln, damit Radfahren in der engen Straßen einigermaßen sicher und entspannt sein kann. Aber das Land Niedersachsen hat das konsequent verhindert. Tempo 30 gibt es dort jetzt allerdings doch – eingeführt über den Lärmaktionsplan der Stadt. Verkehrssicherheit dann als Beifang.
Ein ähnlich deprimierender Fall spielt sich gerade in Stuttgart ab. Seit beinahe 10 Jahren bemüht sich Prof. Dr. Dabbert, Rektor der Universität Hohenheim, um eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf dem Campus. Das Ziel: Mehr Sicherheit zu Fuß und mit dem Rad sowie eine höhere Aufenthaltsqualität. Gleichzeitig soll die Maßnahme ein Zeichen für klimafreundliche Mobilität setzen. 2017 stimmte der Stuttgarter Gemeinderat dem Mobilitätsplan der Universität formell zu. Dort war die campusweite Tempo 30-Zone ursprünglich als „kurzfristige Maßnahme“ zur Umsetzung bis Ende 2018 vorgesehen. Seitdem ist das Projekt allerdings keinen Schritt vorangekommen – trotz zahlreicher Gespräche und einer Verkehrserhebung, die den Handlungsbedarf mit Zahlen unterlegt. Und obwohl auch Stuttgart sich der oben erwähnten Initiative angeschlossen hat.
Aber auch eine Verkehrserhebung im Juli 2019, die den Handlungsbedarf mit konkreten Zahlen unterlegt, hat nicht geholfen: 200 bis 300 Fahrzeuge passieren demnach pro Stunde die Heinrich-Pabst-Straße zwischen Mensa, Hörsaalzentrum und Institutsgebäuden. 500 Personen überqueren die Hauptverkehrsstraße in derselben Zeit. In besonders stark frequentierten Monaten wie z.B. Oktober und November dürften es sogar noch erheblich mehr sein. Bei Tempo 50 sei das keine ungefährliche Angelegenheit, teilt die Universität mit. Allein, es tut sich nichts.
Nicht Tempo 30 bremst, parkende Auto behindern den Verkehrsfluss
Jetzt schießt auch noch die Stuttgarter Straßenbahn AG quer, die Verspätungen ihrer Busse befürchtet. „Der Einwand mag auf den ersten Blick berechtigt erscheinen. Wer sich vor Ort auskennt, weiß jedoch: In der Realität können Busse zwischen den Haltestellen, Kurven und Radfahrer:innen auf dem Hohenheimer Campus nur wenige Meter Tempo 50 km/h ausfahren. Die eigentliche Ursache für Verspätungen ist eine Engstelle in der Fruwirthstraße Richtung Adorno-/Welfenstraße: Ein Parkstreifen auf der Fahrbahn verhindert, dass zwei große Fahrzeuge aneinander vorbeifahren können. Bei Gegenverkehr müssen die Busse warten. Mein Vorschlag lautet deshalb, diese 14 Parkplätze aufzulösen. Damit dürfte der Geschwindigkeitsverlust durch Tempo 30 mehr als ausgeglichen sein. Leider habe ich auf diesen Vorschlag bisher keine Reaktion erhalten“, bedauert Prof. Dr. Dabbert.
„Wir stehen als Gesellschaft vor gewaltigen Herausforderungen. Wenn wir selbst für kleine Fortschritte viele Jahre benötigen, werden wir bei komplexen Transformationsprozessen wie der Verkehrs- und Energiewende scheitern. Das Projekt ‚Tempo 30‘ verfolgt die Universität nunmehr seit fast einem Jahrzehnt. Dies führt erschreckend vor Augen, wie lähmend sich das verworrene Geflecht an Zuständigkeiten und das Übermaß an Bürokratie für konkrete Initiativen auswirken kann. Leider steht das Projekt nur als ein Beispiel für viele weitere“, erläutert der Rektor.
In seiner Verzweiflung ergreift Prof. Dr. Dabbert nun übrigens selbst die Initiative. Mit einer Plakat-Aktion auf dem Campus appelliert er an die Autofahrer*innen, freiwillig vom Gas zu gehen. Es würde mich nicht wundern, wenn die Plakate mit Tempo 30 in Herzform noch wegen Verwechslungsgefahr und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr abgenommen werden müssen.
Der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ treten derweil fast täglich neue Mitglieder bei – allein im Juli sind es schon 30. Sie „fordert den Bund auf, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kommunen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts anordnen können, wo sie es für notwendig halten. Derzeit legt der §45 der Straßenverkehrsordnung – ein Bundesgesetz – fest, dass Tempo 30 nur bei konkreten Gefährdungen bzw. vor sozialen Einrichtungen wie beispielsweise Kitas und Schulen angeordnet werden kann.“ Auch Osnabrück ist seit dem 15. März dabei. Man will in der eigenen Stadt endlich für Verkehrssicherheit sorgen können.
4 Antworten auf „Warum Städte nicht für Verkehrssicherheit sorgen können“
Der Grund hinter der beharrlichen Weigerung, den Kommunen das Recht einzuräumen, selber Tempo 30 einzurichten, scheint mir völlig klar: dann würden überall Tempo-30 Zonen aus dem Boden schießen.
Gemäß dem umgekehrten Nimby-Satz: fahr bittschön schnell, aber nicht bei deinem Nachbarn.
Und Hand aufs Herz: wer hat sich noch nicht dabei ertappt, in seinem Viertel besonders langsam zu fahren? Hier weiss man ja, wo die Kinder wohnen. Und man weiss aus eigener Anschauung, dass flott fahren Krach macht.
Unsere täglichen Widersprüche…
Dieselben Städte, die jetzt -etwas halbherzig*- Tempo 30 fordern und sie sich hinter dem Straßenverkehrsrecht abducken verstoßen seit fast einem Vierteljahrhundert gegen selbiges indem sie Radfahrende in die Nebenanlagen verdammen**.
Mit demselben „Rechtsverständnis“ und derselben Dickhäutigkeit, mit denen Radfahrenden ihre Rechte vorenthalten wurden, würdn sie hier bis zur Änderung der Gesetzeslage schon einmal Fakten schaffen.
*Münster z.B. argumentierte noch vor Jahresfrist, das Vorbehaltsnetz der Feuerwehr brauche Tempo 50:
https://www.wn.de/muenster/bremse-fur-die-autos-bremst-auch-die-feuerwehr-1012710?pid=true
**Aufhebung der allg. RwBPfl. in der Novelle der StVO von 1997.
naja, die Radwegbenutzungspflicht muss nun seit ca 25 Jahren mit einem blauen VZ 237, 240 oder 241 angeordnet sein, davor dienten diese Verkehrzeichen eher als Hinweis zur Trennung der Fuß- und Radwege. Wo also kein blauer Lolli ist, darf man auf der Fahrbahn radeln. Aber wer macht das schon bei einer vierspurigen Einfallstraße gerne?
Die Radelverbände und Aktivisten, die das Radeln auf der Fahrbahn mal vor 30-40 Jahren gefordert haben sitzen heute ganz kleinlaut auf deim Tiefeinstiegsrentnerrad oder -E-Bike und verkrümeln sich freiwillig auf den Gehweg. Die jüngeren Radfahrer demonstrieren plötzlich mit der Poolnudel genau da wo die Vorgänger im großen Radel-„Club“ noch den Schutzstreifen und den Radfahrstreifen gefordert und begrüßt haben.
Seit der Aufhebung der Benutzungsplicht sind auch viel mehr Verkehrszeichen aufgestellt worden und ein völlig blödsinniger Schilderwald entstanden. Auch die Vekehrsbehörden vermögen dies nicht mal zu entzerren und auf eine Linie zu bringen, da stehen hier und da mal alte vergessene Zeichen rum, wirft überall blaue Schilder linksseitig hin (die Radwegbenutzungsplicht soll innerorts nicht angeordet werden, vgl VwV-StVO), woanders behauptet man plötzlich, man könne links keinen Radweg freigeben (Ausdrücklich Freigabe, nicht Plicht), weil dies laut Verordnung nicht zulässig ist.
Dann stellt man zwangsläufig wegen der vielen Geisterradler noch VZ 254 links auf und fertig ist der unübersichtliche Schilderwald.
Insofern haben sich ADFC und Co Knüppel in die eigenen Speichen geworfen. Statt wenige einfache Regeln durchzusetzen haben wir jetzt Radwege mit Benuntzungpslicht, Radwege mit Benutzungsrecht, Freigaben auf Gehwegen und in fußgängerzonen, links Radfahr-Freigaben, sowie Alibi-Fahrradstraßen und -fahrradzonen, welche faktisch der normalen 30-Zone entsprechen.
Dadurch ist eigentlich noch viel mehr Verwirrung und Gefahrpotenzial entstatden, als vorher.
Auch immer lustig, wenn man den grünen (andernorts rot oder blau) Radwegweisern folgt, welche denn auch Routen über Feldwege anzeigen, jedoch an der Felwegeinfahrt ein schönes altes VZ 250 (Verbot für Fahrzeuge aller Art) vor sich hinrostet.
Am Sonntag bin ich mal wieder zwangsläufig Bundesstraße außerorts gefahren und bin sehr oft zu knapp, bei Gegenverkehr, sowie mit hohem Tempo überholt worden. Macht kein Spass so zu fahren. Ich bin für ein flächendeckendes Netz von Radwegen an Bundes- und Landesstraßen bzw. Radfahren auf gut ausgebauten Feld, Wald- und Kanal wegen.
Letze Woche kam in DAS auf N3 ein Radfahrer zu Wort, der von Schlesweig-Holstein nach Paris geradelt ist, der meinte auch sehr deutlich, dass man die Staatsgrenzen am Radwegzustand bemerkt, in Deutschland sind die Wege sehr schlecht.
Ich sags mal so, wenn hier in BS bestimmte Radwege seit über 10 Jahren wegen Wurzelhuckeln und Schlaglöchern eigentlich unbenutzbar sind und trotz zigfacher Beschwerden nicht repariert werden, dafür aber die Fahrbahn daneben schon zwei Mal neuen Asphalt bekommen hat, kann irgendwas in der selbst ernannten „Fahrradstadt Nummer zwei hinter Münster“ nicht stimmen.
Schade, in Langen(Hessen) ist kürzlich der Beitritt zur Initiative knapp (mit 21:19 Stimmen) abgeleht worden. Wer hat abgelehnt? Die CDU und die FDP und noch eine Kleinpartei. Sehr traurig. In der Stadtverordnetenversammlung (in der ich Zuschauer war) wurden fadenscheinige Argumente für die Ablehnung genannt: Die Transportkapazität der Straßen würde abnehmen (was nicht stimmt), die Fahrzeiten würden sich erhöhen und damit müssten Waren und Dienstleistungen teurer werden (minimale Erhöhung der Fahrzeit hat wirtschaftlich zu vernachlässigende Auswirkungen), die Initiative würde Personal binden, sei ideologisch begründet und zudem könne man einfach nicht die Umkehr der aktuellen Regel „Überall 50, und nur in Ausnahmefällen 30km/h“ zustimmen. :-(