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Habemus Mobilitätsgesetz! Quo vadis Radentscheid?

Am 28. Juni um 11:26 wurde das Mobilitätsgesetz vor dem Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedet. Wir feiern damit den vorläufigen Höhepunkt einer Bewegung, die sich im Sommer 2015 in Berlin formierte und aus der Ende November 2015 eine Initiativgruppe für nichts geringeres als einen Volksentscheid zur Umgestaltung des Berliner Verkehrssystems.

Gastbeitrag von Denis Petri (Volksentscheid Fahrrad)

Am 28. Juni um 11:26 wurde das Mobilitätsgesetz vor dem Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedet. Wir feiern damit den vorläufigen Höhepunkt einer Bewegung, die sich im Sommer 2015 in Berlin formierte und aus der Ende November 2015 eine Initiativgruppe für nichts geringeres als einen Volksentscheid zur Umgestaltung des Berliner Verkehrssystems entsprang und mit dem Ruf „Berlin dreht sich!“ in die politische Auseinandersetzung zog.

Was folgte war beispiellos. In eigener Regie mit der Hilfe dutzender Engagierter wurde das Radverkehrsgesetz geschrieben. Hunderte Unterschriftensammler*innen sammelten innerhalb von gut drei Wochen über 100.000 Unterschriften für das Gesetz.

„Das häufigste Wort, das ich während der Sammlung gehört habe war ‘Endlich!’. Endlich tut jemand was, damit man in Berlin sicher und entspannt Fahrrad fahren kann“, erinnert sich Peter Feldkamp, einer der Initiatoren.

Im folgenden Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus wurden Verkehrspolitik und die Bedingungen für den Radverkehr zu einem bedeutenden Thema. Das Radgesetz wollte dennoch keine der an der seit 2016 Berlin regierenden Rot-Rot-Grünen Koalition Parteien alleine übernehmen. Es wurde im Koalitionsvertrag vereinbart, dass ein Mobilitätsgesetz in einem breiten zivilgesellschaftlichen Prozess erarbeitet werden solle. Wieder ein ’Endlich’. Endlich wurde Verkehrspolitik aus dem stetigen Hin und Her von Sonntagsreden auf der einen und politischer Hilflosigkeit auf der anderen Seite befreit und wieder unter das Primat der politischen Gestaltbarkeit gestellt.

„Wir haben den Politikerinnen und Politikern gezeigt, dass sich mit guter Verkehrspolitik, die aufs Fahrrad setzt, Wahlen gewinnen lassen“, resümiert Heinrich Strößenreuther, ebenfalls Initiator des Volksentscheids.

Die Erarbeitung des Gesetzes zog sich allerdings. In 17 Verhandlungsrunden wurde ein Referentenentwurf zwischen der Initiative Volksentscheid Fahrrad sowie dem ADFC Berlin und dem BUND Berlin auf der einen und der Senatsverwaltung und den Koalitionsfraktionen auf der anderen Seite erarbeitet. Bei der entscheidenden Verhandlungsrunde für die Eckpunkte des Gesetzes am 31. März 2017 kam die Berliner Critical Mass zufällig an der Senatsverwaltung vorbei.

„Die letzte Verhandlungsrunde für die Eckpunkte des Gesetzes dauerte bis weit nach Mitternacht. In allen Runden wurde gerungen und gestritten. Es war eine prägende Erfahrung zivilgesellschaftlich-parlamentarischer Aushandlung, die nicht nur die Stadt, sondern uns auch persönlich weitergebracht hat“, erinnert sich Kerstin Stark, die als Mit-Initiatorin des Volksentscheids auch das Radgesetz mitgeschrieben und -verhandelt hat.



Seit jenem Datum verging nochmals über ein Jahr. Der ursprüngliche Plan der Initiative Volksentscheid Fahrrad war, das Radgesetz bei der Bundestagswahl 2017 zur Abstimmung zu stellen. Dieser Plan war schon lange vorher durch die Verzögerungstaktik des alten Senats vereitelt worden. Es tritt also etwas verspätet in Kraft.

„Nach unserem Zeitplan wären wir schon am Ziel. Wir haben die Verzögerung aber gut genutzt, um unsere Netzwerke in den Bezirken und bundesweit auf- und auszubauen und das Thema Verkehrssicherheit in der öffentliche Debatte stärker in den Fokus gerückt“, so Lena Osswald aus dem Vorstand von Changing Cities, dem Trägerverein des Volksentscheid Fahrrad.

Ob sich das Warten gelohnt hat, kann nur die Zukunft zeigen. Das Mobilitätsgesetz besteht aus mehreren Teilen. Heute wurde der allgemeine Teil, der ÖPNV-Teil und der Radverkehrsteil des Gesetzes beschlossen. Es finden sich dort auch die meisten Forderungen niedergelegt, mit denen der Volksentscheid angetreten ist. Ein Fußverkehrsteil und ein Abschnitt zur intelligenten Mobilität (was auch immer das ist) befinden sich in der Ausarbeitung und werden voraussichtlich in einem Jahr beschlossen.

„Wir haben die gesetzliche Grundlage für die Umverteilung der Verkehrsflächen geschaffen. Die tatsächliche Umsetzung wird nicht immer ohne politischen Konflikt zu machen sein. Hier müssen jetzt alle – Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft – an einem Strang ziehen. Wir werden nicht zulassen, dass hier Rad-, Fuß- und öffentlicher Verkehr gegeneinander ausgespielt werden“, fordert Denis Petri, der die Unterschriftensammlung des Volksentscheid organisiert und das Gesetz mitverhandelt hat.

Fakt ist, dass das Gesetz bereits jetzt schon wirkt. Etwa 60 Stellen für Planer*innen und Ingenieur*innen für den Radverkehr wurden in Berlin geschaffen, über 50 Mio. Euro jährlich sind im Haushalt eingestellt.
Fakt ist aber auch, dass in Berlin noch immer kein Radweg nach den neuen Standards gebaut ist. Fakt ist weiter, dass es auf allen Ebenen in der Verwaltung noch immer Widerstände und Beharrlichkeiten gibt, die nur zögerlich bereit sind, sich wirklich auf die Umverteilung von Verkehrsflächen und die konsequente Ausrichtung auf Verkehrssicherheit einzustellen. Fakt ist auch, dass noch immer im Dreiwochentakt Radfahrer*innen und Fußgänger*innen im Straßenverkehr getötet werden.

„Wir akzeptieren nicht länger, dass an irgendeiner Stelle Abstriche bei der Verkehrssicherheit gemacht werden. Jedesmal wenn eine Radfahrerin oder ein Radfahrer getötet wird, werden wir mit unseren Mahnwachen wieder und wieder an die politische Verantwortung für die Schaffung von Verkehrssicherheit erinnern“, so Marlene Sattler, die die Mahnwachen organisiert.

Wie geht es nun weiter? Nicht nur die Verkehrssicherheit, sondern auch der Umbau der Stadt zur fahrradfreundlichen Metropole ist ein dickes Brett, das gerade mal angebohrt wurde. In Berlin wird die Initiative Volksentscheid Fahrrad weiter benötigt. In fast allen Berliner Bezirken haben sich Netzwerke für Fahrradfreundlichkeit gegründet, die weiter Druck auf die Politik und die Verwaltung ausüben werden, damit das Mobilitätsgesetz kein Papiertiger ist. Es geht um die Auseinandersetzung um Verkehrsflächen, um die Verteilung des öffentlichen Raums, mithin um Macht und gerechte Repräsentation. Dafür werden viele Jahre zivilgesellschaftlichen Engagements nötig sein.

„Allein die Arbeit der letzten 2,5 Jahre lässt sich mit mehr als 40.000 Stunden ehrenamtlichen Engagements beziffern. Das entspräche bei einem durchschnittlichen Angestelltenverhältnis etwa 19 Jahren. Diese enorme Teamleistung muss nun in den Bezirken fortgesetzt werden“, betont Yvonne Hagenbach von Changing Cities.

Für die Bündelung dieser Initiativen sorgt Changing Cities e.V. Gegründet als Trägerverein für den Volksentscheid in Berlin, wächst Changing Cities inzwischen zu einem bundesweiten Netzwerk. Überall in Deutschland bilden sich Radentscheid-Initiativen. Sie alle sind Teil einer Bewegung, die aus der Zivilgesellschaft die Verkehrswende voran treibt. Mit der Veranstaltungsreihe #DrehDeineStadt! unterstützt Changing Cities die Vernetzung der Bewegung mit dem Ziel, ein bundesweites Kampagnennetzwerk für gerechte Verkehrsverhältnisse und lebenswerte Städte aufzubauen.

„Das Mobilitätsgesetz und der dahin führte ist Vorbild und Beispiel für Städte und Länder in ganz Deutschland. Der Dank gilt allen Teammitgliedern, die in tausenden Stunden freiwilligen Engagements in Berlin und andernorts dabei sind, die Verkehrspolitik von unten zu drehen!“, so Michael Schulte aus dem Vorstand von Changing Cities.

Eine Antwort auf „Habemus Mobilitätsgesetz! Quo vadis Radentscheid?“

Ja.
Radwegebau ist ein ziemlicher Jobmotor für Leute aus dem Marketing Start-ups, für aufstrebende Campaigner, aber auch abseits der crafbeer-hipster für IngenieurInnen und StadtplanerInnen.

Einerseits gut so, anderseits bleibt abzuwarten ob nicht einfach nur auf die bestehende Autogerechte Stadt eine weitere Infrastruktur draufgesetzt wird, die dann zwar eine liveable Kernstadt und teils auch aufgewertete lastenradaffine Bezirke bedient, die aber (vermutlich) nicht in der Lage sein wird die MIV Verkehrsleistung im Raum Berlin auch nur ein Jota nach unten zu bringen.
Eher wird das Gegenteil eintreten und in einigen Jahren wird die Erkenntnis wachsen, dass der ökologische Preis der neuen Radverkehrsseparation durch steigende Auto Umlandverkehre doch sehr hoch war.
Biosprit 2.0 sozusagen.

Gab es eigentlich IRGENDEIN Benchmarking über den Erfolg der Radentscheidmassnahmen, das mal die Minderung von MIV Verkehrsleistung in den Kalender geschrieben hat?

Mir ist jedenfalls nichts bekannt geworden.
Stattdessen wie bei CSU, IHK und Co. die Huldigung des ‚Radverkehrsanteils‘, als ob das unter den gegebenen Bedingungen irgendwas am stark steigenden Autoverkehr ändern würde.
Kleiner Vorgeschmack:
http://www.taz.de/!5515716/

Die Posse um die entfallenen Parkplätze Karl-Marx-Alle spricht ja auch Bände!
Flop auf der ganzen Linie.
Von viel zu schmalen Pollerwegen wie bei Hasenheide mal ganz zu schweigen.
Wird aber wohl nicht sonderlich thematisiert werden. Ein Teil der Campaigner hat ja bereits ‚die Seite gewechselt‘ und ist jetzt in Lohn und Brot bei der Berliner Groko bzw. der städtischen Verwaltung.
Glückwunsch! Hat sich ja dann gelohnt.

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