Er redet gerne über die Zukunft und über das Fahrrad. Laut dem Verkehrsforscher, Soziologen und Buchautor Prof. Dr. Stephan Rammler erlebt das Fahrrad seine größte Renaissance. Trotz der 200-jährigen Geschichte habe es die beste Zeit erst vor sich. Was bedeutet das für den Stadtverkehr? Müssen Autofahrer weichen? Anlässlich der Jubiläumskampagne „200 Jahre Fahrrad – made in Germany“ spricht Stephan Rammler über Urbanisierung, Innovation und Konzepte, die das Fahrrad neu erfinden.

 

Herr Rammler, das Fahrrad ist in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden – gehört es damit zum alten Eisen der Verkehrsmittel?

Das Fahrrad ist hochmodern. Wir erleben zurzeit einen echten Hype. Es ist garantiert kein altes Gerät, es erfindet sich gerade neu.

Inwiefern?

Zum einen mit Blick auf das Material: Immer mehr Hersteller verarbeiten innovative Stoffe wie Carbon oder sogar Bambus. Außerdem ist das Fahrrad immer häufiger digital vernetzt und hat schon telematische Fähigkeiten, misst die Leistung des Radfahrers oder nutzt GPS-Daten.

Welche Neuerungen gibt es noch?

Es gibt neue Anwendungsmöglichkeiten. Elektrische Fahrräder wie Pedelecs und E-Bikes erobern den Markt. Deshalb wird das Rad für den Güterverkehr und für den Lastentransport immer interessanter. Natürlich gewinnt es auch für ältere Menschen an Bedeutung. Denn sie können damit, trotz körperlicher Einschränkungen, Rad fahren. Vor allem in ländlichen Gebieten und strukturschwachen Regionen überwinden Ältere auf die Weise größere Distanzen.

Immer mehr Menschen wohnen allerdings in der Stadt. Welche Rolle spielt das Fahrrad in Metropolen und Ballungsräumen?

Tatsächlich erleben wir eine weltweite Urbanisierung: Menschen zieht es vermehrt vom Land in die Stadt. Das Problem ist jedoch: die ‚Menge in der Enge’. Auch in Deutschland haben wir große Städte mit hoher Anziehungskraft, die besonders attraktiv sind und immer weiter wachsen – sogenannte Schwarmstädte. Die Folge ist: Immer mehr Menschen bewegen sich auf engem Raum. Gerade deshalb wird das Fahrrad immer wichtiger.

Ich erhoffe mir eine friedliche Koexistenz zwischen Radfahrern und Autofahrern.

Welchen Beitrag leistet das Fahrrad zur Entlastung der Städte?

Im Vergleich zum Auto nimmt es weniger Raum ein – sowohl was den ruhenden als auch den fließenden Verkehr betrifft. Ein parkendes Fahrrad braucht kaum Platz. Demnach liegt die Lösung für eine nachhaltige, emissionsfreie und gleichzeitig effektive Mobilität in den Städten auf der Hand.

Noch hat das Fahrrad einen schweren Stand – vor allem in größeren Städten.

Deshalb ist es wichtig, den Radverkehr zu fördern. Metropolen wie Amsterdam oder Kopenhagen machen es vor. Mithilfe von Infrastrukturprojekten sind Fahrradfahrer dort gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer. Ein Beispiel: In Kopenhagen gibt es die sogenannte Fahrrad-Schlange. Diese Fahrradbrücke verbindet zwei durch Grachten und Kanäle getrennte Stadtteile miteinander. Statt eine teure Autobrücke zu bauen, wurde das Fahrrad bevorzugt und der Verkehr dadurch entlastet. Seitdem wachsen beiden Stadtteile gemeinsam.

Sind internationale Konzepte dieser Art auf Deutschland übertragbar? Die städtebaulichen Voraussetzungen sind hierzulande sicher anders.

Der Mobilitätsbedarf ist von Land zu Land unterschiedlich. Das stimmt. In Deutschland haben wir hiermit weniger Probleme als beispielsweise im mittleren Westen der USA. Dort orientiert sich die Stadtplanung am Automobil. Deutsche Großstädte haben hingegen klassisch gewachsene Innenstädte – mit wenig Platz und wenig Möglichkeiten für Neubauprojekte. Deshalb führt die Lösung nur über eine effizientere Gestaltung der vorhandenen Wege. Diese Situation ist durchaus vergleichbar mit Kopenhagen und Amsterdam.

Was muss sich in deutschen Städten ändern?

Wenn man Radfahren sicherer, schneller und attraktiver machen möchte, muss man den öffentlichen Raum anders aufteilen. Man muss dem Fahrrad insgesamt mehr Platz einräumen. Für eine höhere Fahrradnutzung braucht es breite Fahrradwege, neue Abstellplätze und Ladestationen.

Das Fahrrad ist eines der intelligentesten Verkehrsmittel des 21. Jahrhunderts.

Das klingt fast wie eine Kampfansage an Autofahrer.

Entscheidend ist ein intelligenter Mobilitätsmix. Darin hat jedes Verkehrsmittel seinen Platz. Ich erhoffe mir eine relativ friedliche Koexistenz von Radfahrern und Autofahrern. Klar ist aber auch: Eine intelligente Infrastruktur gibt dem Fahrrad mehr Raum. Das verbessert die Verkehrssituation, erhöht die Lebensqualität und schont das Klima. Beim Fahrrad muss man nicht viel auf innovative Ideen setzen. Es ist an sich innovativ. Ich halte es für eines der intelligentesten Verkehrsmittel des 21. Jahrhunderts.

Wie realistisch ist es in Deutschland, die Bedeutung des Fahrrads zu erhöhen?

Ich glaube, dass die Stärkung des Radverkehrs mit einer wichtigen Voraussetzung einhergeht: mit einem Kultur- und Mentalitätswandel. Der braucht Zeit. Den kann man nicht verordnen. Hoffnung machen aber einige Leuchtturmprojekte in Deutschland. Viele sind in Planung – oder gar schon umgesetzt.



Das BMVI fördert in diesem Jahr mit 25 Millionen Euro sogenannte Radschnellwege. Sind das solche Leuchtturmprojekte?

Beispielsweise der „Fahrrad-Highway“ im Ruhrgebiet wird mit Begeisterung angenommen. Dieser sorgt für enorme Entlastung. Auch zwischen Wolfsburg und Braunschweig soll ein großer Radschnellweg gebaut werden – das könnte gar zwei Städte miteinander verbinden. In Berlin liegen einige Projekte auf dem Tisch – nicht zuletzt ein kilometerlanger Rad- Highway unterhalb der Hochbahn-Trasse der U-Bahn Linie 1. Die Pläne sind gut überlegt und begrüßenswert.

Welche Rolle spielen wirtschaftliche Akteure beim Aufschwung des Fahrrads?

Radfahren verbessert nachweislich die Gesundheit. So haben Unternehmen und vor allem Krankenkassen ein Interesse daran, das Fahrrad zu fördern. Sie wollen auch, dass es in der Stadt leiser und sauberer wird. Deshalb entwickeln sie Instrumente, die Anreize für das Radfahren schaffen – meistens mit Bonusprogrammen für Angestellte oder Versicherte. Nicht zuletzt haben auch der Einzelhandel und die Logistikbranche ein Interesse am Radverkehr.

Welches?

Sowohl die digitalen Start-ups in den Städten als auch die großen E-Commerce Logistiker in Deutschland merken längst, dass in manchen Städten selbst Kleintransporter kaum mehr durch den Verkehr kommen. Eine Lieferung am selben Tag ist nur mit Fahrrädern zu schaffen. In vielen Jahren wird das Verkehrsnetz der Städte anders aussehen – weil die Menschen und die Wirtschaft immer stärker auf das Rad setzen. Wird der Radverkehr schneller und sicherer, werden wir einen Fahrradboom erleben.

Ein Interview vom Kampagnenbüro „200 Jahre Fahrrad“
Seit 200 Jahren gehört das Fahrrad zu den schönsten Arten der Fortbewegung. Es steht für individuelle Freiheit, unabhängige Fortbewegung, gesunde Mobilität und unbegrenztes Fahrvergnügen. Das liegt auch an den vielen Innovationen – made in Germany. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur feiert den Fahrrad-Geburtstag mit einer Jubiläumskampagne, die Fahrfreude mit Erfindergeist verknüpft. Auf der Landkarte der innovativen Orte präsentiert sie Unternehmen, Forschungsprojekte und Fahrrad-Initiativen, die mit ihren Innovationen täglich die Zukunft des Fahrrads mitgestalten. Darüber hinaus war die Kampagne im Sommer dieses Jahres mit einer Foto-Mitmachaktion auf verschiedenen Fahrrad-Events in Deutschland vertreten.
Teaserbild: Stephan Rammler