Verkehr geht nur zusammen Grafik Mikhail 1Als Radfahrer kennt man das: man ist auf der Fahrbahn unterwegs, um schnell voranzukommen, als plötzlich ein Auto so dicht an einem vorbeirauscht, dass man den Luftwirbel am linken Ohr spürt. An der nächsten Kreuzung will man den Fahrer kurz darauf hinweisen, wie gefährlich das gerade war und dass es Mindestabstände beim Überholen gibt – und schon fliegen die Fetzen. Wenn es gut läuft nur verbal.

Über diese Szenen wird immer wieder geschrieben – in Blogs sowieso, aber auch in großen Medien. Die letzte Schlagzeile stammt aus dem September 2015: die Zeit schreibt vom „Straßenkampf“ zwischen Auto- und Radfahrer, „in dem Blut und Spucke fließen“. Die Erklärung für diese „Kampfszenen“ findet sich in der Geschichte des Straßenverkehrs. Bevor Carl Benz 1886 seinen Benz Patent-Motorwagen Nummer 1 anmeldete und die Serienproduktion startete, lagen die Geschwindigkeiten der verschiedenen Verkehrsteilnehmer relativ nah beieinander. Die Straße konnte problemlos von allen genutzt werden. Ein Miteinander war möglich.

Dieses Miteinander hat das Auto aufgebrochen. Schon Ende der 1920er Jahre war man bemüht, den Radverkehr von der Straße auf extra angelegte Wege zu verlegen. Mit der „Reichs-Straßen-Verkehrs-Ordnung“ von 1934 wurde dann eine Radwegebenutzungspflicht eingeführt. Allerdings nicht zum Schutz der Radfahrer, sondern zur Förderung und Beschleunigung des Kraftverkehrs.

Das Auto hat das friedliche Miteinander auf der Straße aufgebrochen.

Von da an wurden Straßen aus- und neugebaut, die in erster Linie für den motorisierten Verkehr bestimmt waren. Die Folgen reichen bis ins Jetzt. Auch wenn inzwischen ein Umdenken eingesetzt hat, findet Verkehr oft noch nebeneinander auf eigenen Infrastrukturen statt: Autos auf der Straße, Fahrräder auf dem Radweg, Fußgänger auf dem Gehweg. Daher ist es kein Wunder, dass Verkehr da als ein Gegeneinander gesehen wird, wo sich diese Infrastrukturen kreuzen. Radfahrer müssen Straßen überqueren, um zurück auf „ihre“ Infrastruktur zu kommen. Oder sie fahren gleich auf der Fahrbahn, was ihnen in den meisten Fällen laut Straßenverkehrsordnung ausdrücklich erlaubt ist. Sie sind dann aber – aus Sicht des Autofahrers – kurzzeitig ein Hindernis. Beide werden folglich zu Gegnern auf der Straße. Überhöht wird daraus dann der oft zitierte Krieg. Der weitet sich noch aus, wo Radfahrer auf dem Gehweg fahren, weil sie keinen „eigenen“ (Rad-) Weg vorfinden.

Verkehr geht nur zusammen Grafik Mikhail 2Als Verkehrsteilnehmer sollten wir uns daher immer wieder in Erinnerung rufen, für wen Straßen eigentlich da sind – nämlich für Menschen. Nicht für Autos oder sonstige Maschinen. Straßen sind für Menschen da, um ihnen den Weg von A nach B zu ermöglichen. Das gilt insbesondere für die Straßen in unseren Städten. Der Raum ist hier stark begrenzt. Will man jedem Verkehrsmittel einen eigenen Teil geben, kommt es schnell zu Verteilungsproblemen. Wir sollten uns überlegen, ob wir den vorhandenen Raum nicht lieber gemeinsam nutzen wollen. Und dabei müssen wir aufeinander eingehen, Empathie zeigen.

In einer Welt, in der sich jeder selbst der nächste ist und wo (nicht nur) im Straßenverkehr eine Ellenbogengesellschaft regiert, hindert uns aber allzu oft unsere „angeborene Standardeinstellung“ an empathischem Handeln. „Wenn ich mich in einem sozial bewussteren und geisteswissenschaftlicheren Modus meiner Standardeinstellung befinde, kann ich mich im Feierabendverkehr natürlich auch aufregen über all diese riesigen, hirnrissigen, straßenblockierenden Geländewagen, Hummer und 12-Zylinder-Pick-ups, aus deren selbstsüchtigen, verschwenderischen 150-Liter-Tanks die Welt mit Abgasen verpestet wird (…), in denen die hässlichsten, rücksichtslosesten und aggressivsten Fahrer am Steuer sitzen, die üblicherweise an ihren Handys hängen, während sie anderen den Weg abschneiden, bloß um im Stau zehn Meter weiter vorn zu stehen (…).“ (David Foster Wallace: Das hier ist Wasser/This is Water. Anstiftung zum Denken, KiWi Paperback, Köln 2012)

So beschreibt es der amerikanische Autor David Foster Wallace († 2008) in einer Abschlussrede vor einem College-Jahrgang, die mitunter als „Anleitung für das Leben“ beschrieben wird und erläutert, was es heißt, erwachsen zu sein. Es heißt nämlich zu reflektieren, Empathie zu zeigen und gewisse Situationen auch mal aus einer anderen Perspektive als der angeborenen Standardeinstellung zu betrachten. Welche Bedeutung hat der Stau für mich – auf dem Weg nach Hause – wenn neben mir, eben in einem SUV, ein Vater mit dem kranken Sohn versucht, so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu kommen? Dann bin ich ihm im Weg, was sicher eine größere Bedeutung hat, als mein alltägliches Eintreffen zu Hause.

Es geht darum, von Zeit zu Zeit seine Standardeinstellung zu überwinden, Prinzipien auszublenden, sein Denken zu hinterfragen und sich in das Gegenüber hineinzuversetzen – eben Empathie zu zeigen. Denn Verkehr geht nur zusammen.

Anderes Beispiel: Warum wird der Radfahrer zum von Fußgängern „gehassten“ Gehwegradler? Vielleicht fühlt er sich gezwungen, auf dem Gehweg zu fahren, weil ihm die Straße zu gefährlich erscheint und ihm nichts anderes angeboten wird. Natürlich sollte er dabei keine Fußgänger gefährden. Die wiederum sollten dann aber auch mal ein Auge zudrücken können und kurz darüber nachdenken, warum der Radfahrer da wohl fährt.

Es geht also darum, von Zeit zu Zeit seine Standardeinstellung zu überwinden, Prinzipien auszublenden, sein Denken zu hinterfragen und sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, Empathie zu zeigen. Bei allen Theorien, wie man Radfahrer, Fußgänger und Autofahrer am besten von A nach B bringt, bleibt eines entscheidend: Verkehr geht nur zusammen. Ein Gegeneinander ist nervig, gefährlich und zuweilen tödlich. Nur miteinander können wir den immer wieder zitierten Krieg auf unseren Straßen beilegen.

Dieser Artikel ist in (leicht geänderter Version) in der zweiten Ausgabe von transform – Magazin für das Gute Leben unter dem Titelthema „Empathie“ erschienen. Die Grafiken kommen von Mikhail Svyatskiy.