Die Straßenverkehrsordnung hat so ihre Eigenheiten und die aktuelle Novelle wird daran auch nicht viel ändern. Ich hatte hier schon mal über die gefährliche Kuriosität des Überholens und Vorbeifahrens geschrieben. Ein Überholvorgang findet per Definition nämlich nur zwischen zwei Fahrzeugen auf dem gleichen Straßenteil statt. Ein Autofahrer überholt einen Radfahrer also nur dann, wenn dieser auf der Fahrbahn oder auf dem zur Fahrbahn gehörenden Schutzstreifen fährt. Er muss dann (künftig auch offiziell nach StVO) einen Abstand von 1,5 Metern halten. Fährt der Radfahrer allerdings auf einem Radfahrstreifen, der sich vom Schutzstreifen meist nur durch die Markierung unterscheidet, gilt der Überholabstand nicht. Denn Radfahrstreifen und Fahrbahn sind unterschiedliche Straßenteile. Daher findet auch kein Überholen, sondern ein Vorbeifahren statt. Der Überholabstand von 1,5 Metern gilt in diesem Fall nicht. Klingt nicht nur absurd, ist es auch.
Die Straßenverkehrsnovelle hätte diesen Missstand nun beheben können. Stefan Gelbhaar, Sprecher für städtische Mobilität und Radverkehr der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, hat genau dazu eine Frage an die Bundesregierung gestellt:
Gilt die zukünftig neue Regelung in der Straßenverkehrsordnung (…), nach der „Beim Überholen mit Kraftfahrzeugen von zu Fuß Gehenden, Rad Fahrenden und Elektrokleinstfahrzeug Führenden (…) der ausreichende Seitenabstand innerorts mindestens 1,5 m“ beträgt, auch für Vorgänge, bei denen Kraftfahrzeug-Führende an Rad Fahrenden und Elektrokleinstfahrzeug-Führenden, die einen Radfahrstreifen nutzen, vorbei fahren, und wenn nein, mit welcher Begründung sieht die Bundesregierung in diesem Fall ein geringeres Gefährdungspotenzial als im Falle der Nutzung von Radschutzstreifen durch Rad Fahrende oder Elektrokleinstfahrzeug-Führende, bei denen rechtlich ein Überholvorgang im Sinne der Novelle vorliegt?
In anderen Worten: Gilt der Überholabstand von 1,5 Metern nur bei Schutzstreifen oder auch bei Radfahrstreifen? Und wenn nein, warum nicht?
Das Bundesverkehrsministerium beantwortet die Frage nicht. Es erklärt zwar das Problem noch mal, verschanzt sich dann aber hinter infrastrukturellen Vorgaben, für die die Länder zuständig seien:
Die Novellierung des § 5 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) befindet sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren beim Bundesrat. Bei Radfahrstreifen handelt es sich um Sonderwege, die – anders als Schutzstreifen für den Radverkehr – nicht Teil der Fahrbahn sind. § 5 StVO setzt nach der Rechtsprechung voraus, dass sich beide Verkehrsteilnehmer auf demselben Fahrbahnteil befinden.
Radfahrstreifen sollen nach Rn. 19 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 2 Abs. 4 Satz 2 StVO eine Breite von möglichst 1,85 m aufweisen. Werden Radfahrstreifen an Straßen mit starkem Kraftfahrzeugverkehr angelegt, ist ein breiter Radfahrstreifen oder ein zusätzlicher Sicherheitsraum zum fließenden Verkehr erforderlich. Damit soll ein ausreichender Abstand zum Kraftfahrzeugverkehr bereits durch die Breite des Sonderweges beziehungsweise durch den zusätzlich geschaffenen Sicherheitsraum gewährleistet werden. Die Zuständigkeit für die Umsetzung haben die Länder.
Das ist viel zu wenig. Wo gibt es überhaupt so einen breiten Radfahrstreifen mit zusätzlichem Sicherheitsraum? Die Realität sieht ganz anders aus. Auch Gelbhaar übt scharfe Kritik: „Wieder einmal zeigt sich, welch falsche Versprechungen Verkehrsminister Scheuer den Radfahrerinnen und Radfahrern im Land mit der StVO-Novelle macht. Den Mindestabstand zum Überholen von Radfahrenden in der StVO zu verankern, war reine Formsache. Die Abstände waren längst gültige Rechtsprechung. Dass die Abstandsregelungen nun nicht für jeden Fall gelten, ist brandgefährlich. Wer an Radfahrenden, die einen Radstreifen benutzen, vorbeifährt, darf nach Auskunft des Verkehrsministeriums auch weiterhin Radfahrende gefährden. Dabei ist erwiesen: Wenn Radfahrende auf einem Radstreifen fahren, werden sie besonders oft viel zu eng überholt. Allein ein Strich auf dem Boden schützt niemanden, im Gegenteil. Radfahren wird mit der neuen Regelung daher nun keinen Deut sicherer.“
12 Antworten auf „Scheuers falsche Versprechungen mit dem Überholabstand“
Das Rechtsgutachten steht das anders
https://hamburg.adfc.de/fileadmin/redaktion/Verkehr/Radfahrstreifen/udv_uko86_web_181221_Rechtsgutachten_zu_markierten_Radverkehrsfuehrungen.pdf
@Jpjea
Danke!
In der Straße auf dem Foto unten fährt man als FahrradfahrerIn am besten links des Striches. Schließlich darf/soll man ja auch 1,5m Abstand zu parkenden Autos halten – und dann gilt auch wieder 1,5m Überholabstand… ;-)
Dieser Teil der StVO-Novelle 2020 ist eh nur Makulatur, weil der Überhol-Abstand von 1,50 bis 2,00 Metern eh (kraft Rechtsprechung) seit Jahren gilt. Das versteht aber gerade kaum einer.
Trotzdem ist die Novelle auch in diesem Punkt hilfreich, weil die Vorschrift dadurch wieder mal markant publiziert wird.
Ob nun Radfahrstreifen tatsächlich in den neue StVO-Zusatz fallen oder nicht, halte ich für vernachlässigbar, weil den Unterschied eh kein Mensch weiss/versteht. Außerdem, besteht unabhängig davon die Rechtsprechung (siehe oben) und diese wurde kürzlich noch von einem UDV-Gutachten eindeutig geklärt und so zusammengefasst:
Fazit: Im Einklang mit der bislang einschlägig ergangenen Rechtsprechung sowie dem Grundprinzip der Verkehrssicherheit als oberster Auslegungsmaxime sämtlicher Verhaltensvorschriften der StVO bedarf es bei Überholvorgängen sowie Vorgängen des Vorbeifahrens an Radfahrern unabhängig von der angeordneten Art der Radverkehrsführung eines Mindestseitenabstandes von 1,5 Metern. Kann dieser nicht eingehalten werden, besteht für Fahrzeugführer gem. § 5 Abs. 4 Satz 2 StVO ein so genanntes „faktisches Überholverbot“.
vollständiges Gutachten: https://hamburg.adfc.de/fileadmin/redaktion/Verkehr/Radfahrstreifen/udv_uko86_web_181221_Rechtsgutachten_zu_markierten_Radverkehrsfuehrungen.pdf
@Thomas Maria Classen
Danke!
Ist mir alles zuviel Text ….
Wenn ich mit Auto unterwegs bin halte ich generell ausreichend Sicherheitsabstand zu den Radfahrern – egal wer da was auf die Straße gepinselt hat oder auch nicht . Auch bei Hochbord oä halte ich möglichst viel Abstand .
Das nennt man gutes Benehmen – dafür braucht man noch nicht mal die StVO kennen…..
Was lernen wir daraus? Als Radfahrer werde ich das Angebot des Angebotsstreifens dankbar ablehnen und links der Linie fahren. Dann muss ein KFZ auch im Wortsinn überholen und auch die 1,50 Meter Abstand halten. Gleichzeitig vermeidet man das Fahren in der Dooringzone. Danke BMVI!
Der einzige Grund, Radstreifen zu verwenden: langsam darauf am Ampelstau vorbei rollen. Ansonsten fahre ich auch immer zügig auf der Fahrbahn. Seit ich das so halte, wurde ich nicht mehr getürt und vor allem deutlich weniger oft vom Parkplatzsuchverkehr überholt und gefährlich geschnitten.
Aber insgesamt gehören diese Streifen einfach mal weg. Sie animieren manche Wutautofahrer zu den dämlichsten Manövern, vor allem erzieherisches Rammen von Radfahrern mit wildem Gehupe passiert hier immer öfter. Ich frage mich, was zum Geier heutzutage in Fahrschulen so gemacht wird, Fahren und StVO scheinbar nicht. Neulich musste ich mich anhupen und anschreien lassen, weil ich für ein älteres Pärchen ausrollen und anhalten musste, die Ampelphase war schon für gesunde Geher kaum zu schaffen. Da sind dann hektisch am Lenkrad kurbelnde Schwachmaten wie die Affen um die beiden Fußgänger und mich drumrumgeballert. Mir wird bei sowas richtig schlecht: was sollen ältere oder kranke Menschen denn machen bei zu knappen Ampelphasen, sich in Luft auflösen? Wenn der Umgang miteinander weiter so degradiert, bringen auch die besten Verkehrsregeln nix mehr, dann herrscht das Recht des Stärkeren bis die autofreie Innenstadt und Tempo 30 drumrum kommt. Hält sich dann aber wahrscheinlich auch keiner dran.
Sorry für den Rant, war dank Mistwetter ’ne ätzende Woche mit zu vielen Autos :D
Der „Gefährdungsstreifen“ da oben sollte demarkiert werden, weil absolut nicht zulässig.
Die Mühlen mahlen sehr langsam….. wenn man bedenkt, dass vor 23 Jahren die generelle Radwegbenutzungpflicht abgeschafft wurde, aber in den Köpfen vieler Autofahrer immernoch der Radfahrer auf den (teils nicht mal mehr vorhandenen) Radweg radeln soll.
Ich sehe das Problem darin, dass wir viel zu viele Regeln, Ausnahmeregeln und spitzfindige Definitionen haben, wo kein Nutzer mehr genau weiß was wirklich stimmt. Wenn man sich im Recht fühlt, ist es doch wieder anders.
@Bser
Der Streifen auf dem Foto ist doch nicht schlecht! Er markiert den minimalen Abstand, den ein Radfahrer zu den rechts parkenden Autos halten sollte um nicht in der Dooring-Zone zu radeln. Mir selbst wäre das aber zu unsicher. Ich hielte deutlich größeren Abstand.
Die Ausführungen der StVO sind das Eine. Dass der Überholabstand aber auch bei Radfahrstreifen eingehalten werden muss, ist das Andere. Die Unfallvorschung der Versicherer hat das letztes Jahr in einem Rechtsgutachten ermitteln lassen:
https://udv.de/de/publikationen/unfallforschung-kommunal/rechtsgutachten-markierte-radverkehrsanlagen
Auch zur Praktikabilität bisheriger Straßenquerschnitte finden sich beachtenswerte Ausführungen:
https://udv.de/de/strasse/stadtstrasse/radverkehr/radfahrstreifen-und-schutzstreifen
„Es gelten das allgemeine Rücksichtnahmegebot, das schon bis 1975 Grundlage für Mindestabstände von 1,5 bis 2 m war, sowie das Gefährdungsverbot nach § 1 Abs. 2 StVO.“
https://www.adfc.de/artikel/schutzstreifen-und-radfahrstreifen/