Die furchtbare Nachricht dringt an einem Montagabend zwischen sieben und acht Uhr in den Alltag ein. Ein Radfahrer ist an der Schlosswallkreuzung von einem LKW überfahren und getötet worden. Das einzige nennenswerte Lokalmedium reagiert schnell, aktualisiert die Meldung weiter. Der 28-jährige Radfahrer fuhr geradeaus auf einem Radstreifen, als der parallel zu ihm fahrende LKW nach rechts abbog und ihn überrollte.

Mir wird bei der Vorstellung schlecht und mein Herz schlägt hart und schnell. Ich denke an den Mann, der vielleicht noch drei Viertel seines Lebens vor sich hatte und mag mir seine letzten Sekunden, Minuten gar nicht ausmalen. Ich denke an seine Eltern, die wahrscheinlich in ihrem Leben sehr, sehr viel für seinen Schutz und seine Gesundheit getan haben, und die nun eine furchtbare Nachricht erhalten werden, die ihr Leben völlig erschüttern wird. Hat er eine Partnerin oder einen Partner, der oder die jetzt die Liebe ihres oder seines Lebens verloren hat? Werden möglicherweise Geschwister ohne jemanden sein, der sie fast ihr ganzes Leben begleitet hat und ab jetzt die Kurve aus Schock, Ablehnung, Wut und alles überwältigender Traurigkeit durchlaufen?

Mir wird bei der Vorstellung schlecht und mein Herz schlägt hart und schnell.

Ich bekomme die Info gleichzeitig von verschiedenen Menschen und aus den Gruppen, in denen sich viele Radfahrende aus der und um die Stadt befinden. Man ist gut vernetzt und kennt sich, Osnabrück ist da ziemlich übersichtlich. Aktive vom ADFC, die Lastenradgruppe, einige Stammfahrende von der Critical Mass, das politische Umfeld, Einzelkämpfer. Etwas später versuchen andere per Tweet ihrer Fassungslosigkeit, Trauer und Frustration über den Tod des Radfahrers Ausdruck zu verleihen. Was immer wieder zu hören bzw. lesen ist: Alle sind das immer wiederkehrende Sterben von Radfahrenden und dass die Verhältnisse sich nicht bessern, so unsagbar leid.

Es ist eine traurig-gewohnte Routine, die nun anläuft. Man wartet zuerst verlässliche Informationen über den Hergang ab. Manche überlegen, nach Aufhebung der Sperrung zum stillen Anteilnehmen an den Unfallort zu fahren, auch ich verspüre diesen Wunsch. Einer ist später auf dem Heimweg am Ort des Geschehens entlanggekommen und schildert seine bedrückende Wahrnehmung. Als erste öffentlich sichtbare Aktion wird eine Mahnwache am Folgeabend zum Unfallzeitpunkt vor dem Juridicum vereinbart. Die Planungen für das Aufstellen eines ghost bikes beginnen, das sind die weißen Geisterräder, die im Straßenbild an schwer verletzte oder getötete Radfahrende erinnern. Die Abläufe kenne ich inzwischen, nach dem ich mit Daniel – einem langjährigen Partner und Vorbild in dem Bestreben für bessere Radverkehrsbedingungen – einige davon aufgestellt habe, aufstellen musste. Ein altes oder kaputtes Fahrrad wird kurzfristig aufgetrieben, weiße Sprühfarbe zum Lackieren gekauft. In einem Garten oder einer Garage von jemandem, bei dem/der es gerade möglich ist, wird das Fahrrad dann weiß.

Wir haben für uns entschieden, immer zu hoffen, dass dieses ghost bike das letzte ist, was wir aufstellen, und keins vorzubereiten.

Jemand sagte mal, der ADFC in Berlin habe immer ein weißes Fahrrad vorbereitet stehen, da der nächste getötete Radfahrende ständig zu erwarten sei. Wir haben für uns entschieden, immer zu hoffen, dass dieses ghost bike das letzte ist, was wir aufstellen, und keins vorzubereiten. Der Termin für die Gedenkfahrt zum Ort des Hergangs und das Aufstellen wird gesucht, so dass möglichst viele, denen dieses Zeichen des Gedenkens wichtig ist, dabei sein können. Wahrscheinlich wird es der Freitagnachmittag. Die Beteiligung wird voraussichtlich erneut hoch sein, also begleitet vermutlich auch die Polizei die Fahrt wieder. Das ghost bike wird auf einem Fahrradanhänger für den Fahrradtransport an der Spitze des Gedenkzuges sein. Vor Ort wird es sichtbar und gleichzeitig so rücksichtsvoll aufgestellt, dass alle Verkehrsteilnehmenden frei ihre Wege nehmen können. Ein weißes Schild mit schwarzer Schrift und Umrandung wird das Fahrrad bekommen, Inhalt: Das Kreuz für den Tod, „Radfahrer, 28 Jahre, 29.11.2021“

Ein ADFC-Aktiver berichtet auch vom Abschleppen des LKW, der nach dem Vorfall weiterfuhr und einige Kilometer weiter angehalten wurde. Ich denke auch an den LKW-Fahrer, der den Vorfall vielleicht nicht bemerkt hat, und was nun mit ihm los sein muss. Ich gehe immer davon aus, dass niemand einen anderen Menschen bei so einem Hergang absichtlich verletzt oder tötet und dass es ein furchtbarer Schock gewesen sein muss, das zu erfahren. Ich kann mir vorstellen, dass man seines Lebens danach nicht mehr froh sein wird. Die Lenkradperspektive kenne ich nur aus dem Auto, und selbst da habe ich große Angst davor, dass mir ein Fehler unterläuft und dadurch jemand Schwächeres im Verkehr Schaden nimmt. Beim LKW stelle ich mir das noch viel extremer vor.

Sie halten die B68-Verlegung als blutiges Faustpfand in den Händen hinter dem Rücken, das sie nur im Gegenzug für den Bau der A33-Nord herausgeben wollen.

Umso unverständlicher ist es für ganz viele Menschen in der Stadt, dass die Bundesstraße 68 – die Straße, auf der der Radfahrer überfahren wurde – immer noch von Nord nach Süd mitten durch das Zentrum von Osnabrück über den Wallring läuft. Mit der inzwischen durchgehenden Verbindung der A33 von Osnabrück nach Bielefeld hat die B68 ihre überregionale Bedeutung längst verloren. Fernverkehr kann parallel auf der A1 über die A30 auf die A33 gen Süden fahren. Kein Transit-LKW muss sich durch die Stadt entlang des mittelalterlichen Ringes quetschen und Radfahrende noch mehr gefährden, als es ohnehin schon der Fall ist. Es gab schon mehrere ernste Anläufe auch von der Stadtspitze, die Verlegung einzufordern und endlich vorzunehmen – sie ist bis jetzt immer am Widerstand der CDU-/CSU-geführten Verkehrsministerien in Hannover auf Landesebene und in Berlin auf Bundesebene gescheitert. Sie halten die B68-Verlegung als blutiges Faustpfand in den Händen hinter dem Rücken, das sie nur im Gegenzug für den Bau der A33-Nord herausgeben wollen. Mit dem Leben und der Gesundheit von Radfahrenden und zu Fuß gehenden soll der sogenannte „Lückenschluss“ erzwungen werden.

Diese Gebetsmühle wurde auch im Kommunalwahlkampf von mehreren Parteien und Oberbürgermeisterkandidat*innen gedreht. Es wird ein Zusammenhang herfabuliert, der keiner ist. Wenn man mehr Sicherheit für den Radverkehr in unserer Stadt will, ist die Verlegung der B 68 auf A1 und A30 aus der Stadt heraus ein schneller formaler Verwaltungsakt und das Abändern der Route und einigen Schildern. Damit ist ein Durchfahrtsverbot für den Schwerlastverkehr möglich und auf einfachem Wege viel erreicht. Noch eine Autobahn für noch mehr Verkehr und noch mehr Umweltbelastung ist dafür nicht nötig. Ich frage mich, ob Niedersachsens Verkehrsminister Bernd Althusmann von den tödlichen Unfällen Notiz nimmt. Eine Petition des ADFC und anderen Unterstützenden zur B68-Verlegung hat über 3.000 Unterschriften bekommen und wird ihm demnächst übergeben. Hat er ein Herz und wird auch als Mensch und Vater anders entscheiden als bisher? Wird er endlich das Leben von Menschen in seinem Bundesland über wirtschaftliche Interessen stellen oder ist das „C“ seiner Partei nur noch ein leerer blutroter Buchstabe? Wie viele Tote braucht es noch, damit sich endlich etwas ändert?




In den Folgetagen beginnt der politische Umgang mit dem Geschehen. Wir werden unsere Bestürzung und Trauer ausdrücken, dass erneut ein radfahrender Mensch durch ein motorisiertes Fahrzeug aus dem Leben gerissen wurde. Wir sprechen unser Mitgefühl mit den Angehörigen aus. Die vermutliche Ursache für diesen Unfall ist eine bekannte Todesfalle: die roten Radfahrspuren zwischen Rechtsabbiegern und Geradeausrichtung auf der Fahrbahn, von vielen auch „Mordstreifen“ genannt. Ohne Abstand und Schutz zwischen Autos und LKW sollen hier Radfahrende ab 8 Jahren fahren. Eine gnadenlose Infrastruktur, die unter den letzten 3 Bundesbenzinkanistern der CSU weiter zementiert, oder besser asphaltiert, wurde. Bloß keinen Millimeter der luxuriösen Platzausstattung von Auto und LKW abgeben, den es für geschützte Radwege bräuchte. Dabei benötigen wir so dringend eine Verkehrsinfrastruktur, die Fehler aller Beteiligten abfängt, Unfälle verhindert und Schwache schützt. Wir werden Vorschläge machen, wie man die lebensgefährlichen freilaufenden Rechtsabbiegespuren umbauen und sicher machen kann. Dafür werden wir wieder Vorwürfe zu hören bekommen, wir würden den Tod des Radfahrers für unsere Forderungen „instrumentalisieren“ für einen „Kampf gegen das Auto“, was zu einer „Benachteiligung“ derer führen würde, die „auf das Auto angewiesen sind“ oder dass gleich die ganze Wirtschaft erstickt und niemand mehr zum Einkaufen in die Stadt fährt. – Ernsthaft? Wenn der wiederholte, furchtbare, vermeidbare Tod von Menschen kein guter Grund für die Forderung nach dringenden Veränderungen ist, was denn dann?! Ich bin nicht bereit, regelmäßig Tote in Kauf zu nehmen und als „normal“ zu akzeptieren!

Ernsthaft? Wenn der wiederholte, furchtbare, vermeidbare Tod von Menschen kein guter Grund für die Forderung nach dringenden Veränderungen ist, was denn dann?!

Wir werden weitermachen in unseren Anstrengungen für sichere und gute Radfahrbedingungen. Obwohl wir wissen, dass es lange dauert. Politische Abhängigkeiten, lange Verwaltungslaufzeiten, veraltete Regelwerke, verstaubte Bundesgesetze, finanzielle Grenzen, fehlende Kapazität und Kompetenz für Planung und Bau lassen die Veränderungen zäh werden, obwohl jetzt der politische Wille und auch eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz für verbessernde Maßnahmen da sind. Obwohl wir müde sind, so müde, weil der Kampf schon so lange dauert. Obwohl die Gegner aus Geld, Geschäftsmodellen, Bequemlichkeiten und jahrzehntelangen Gewohnheiten übermächtig erscheinen. Obwohl es kostbare persönliche Energie, Zeit und eigenes Geld kostet. Obwohl uns Häme, Anfeindungen und Hass aus den Kommentarspalten, Beiträgen, Artikeln, Pressemitteilungen sicher sind und von dort schwächeren Verkehrsteilnehmenden das Recht auf eine sichere Teilnahme am Verkehr oder das Befahren bestimmter Wege abgesprochen wird. Obwohl wir damit rechnen müssen, dass wir weiter Tote betrauern müssen, bis die Vision von Verkehr ohne Tote und Schwerverletzte, die „vision zero“, Realität geworden ist.

Ich halte später am Abend die leicht zuckende Hand meiner einschlafenden Tochter. Wenn sie allein mit dem Fahrrad unterwegs ist, fährt immer latent die Angst um sie mit. Bei der Vorstellung, ihr würde so etwas widerfahren, schnürt sich mein Hals zu und die Augen werden heiß. Sie war und ist der Grund für mich, für eine Verbesserung aktiv zu werden und zu bleiben. Eines schönen Tages wird sie zusammen mit vielen sicher und frei in der Stadt mit dem Fahrrad alle ihre Wege fahren können, den Fahrtwind im Haar und ein Lachen auf den Lippen.

Text und Bild von Volkmar Seliger, den ihr hier bei Twitter und hier bei Instagram findet.