Critical_mass_logoIn Ausgabe 11 des Radkulturmagazins fahrstil habe ich im letzten Jahr einen sehr schönen Artikel über das Phänomen Critical Mass gelesen. Geschrieben hat ihn Bettina Hartz, von der ich hier im Blog auch schon das Buch „Auf dem Rad – Ein Frage der Haltung“ vorgestellt hatte.

Bettina und das fahrstil-Magazin sind so nett und lassen mich den Artikel hier in Auszügen als Gastbeitrag veröffentlichen. Eine großartige Einstimmung für die nächste Critical Mass, wo auch immer ihr sie erleben werdet!

Critical Mass

Sie wollen innerstädtischen Verkehrsraum zurückerobern. Sie wollen Spaß am Radfahren haben. Und sie wollen auch etwas in den Köpfen der Menschen bewegen. Critical-Mass-Radler engagieren sich mit dem Fahrrad fürs Fahrrad.

Ich bin skeptisch gegenüber Massenveranstaltungen, noch viel mehr auf und mit dem Rad. Jede und jeder hat eine eigene Fahrweise, ein eigenes Tempo, und nun soll ich sogar in einem Verband fahren. Das sind laut Straßenverkehrsordnung (§ 27 Abs. 1 StVO) mehr als 15 Radfahrer, die gleichzeitig dieselbe Route nehmen. Dieser Verband muss keinen Radweg benutzen, die Radler dürfen zu zweit nebeneinander auf einer Fahrspur fahren. Diese rollende Prozession wird verkehrstechnisch behandelt wie ein Schwertransporter, der sich ja rein technisch nicht einfach teilen kann. Und deshalb darf die geschlossene Gruppe immer komplett eine Kreuzung überqueren: Die Spitze des Verbands startet bei Grün und der komplette Verband rollt als Einheit weiter, selbst wenn zwischendrin die Ampel auf Rot springt. Da normalerweise eine moderate Geschwindigkeit von etwa 15 Kilometern pro Stunde gewählt wird, passiert das häufig – und macht zumindest den Radlern großes Vergnügen. Denn jetzt spürt man die Freude, die aus der Umkehrung der Verhältnisse resultiert: Man ist nicht länger das fragile Doppelwesen aus Mensch und Rad, das sich, die Hände auf den Bremsen, den Blick wachsam in alle Richtungen streuend, durch den Großstadtdschungel schlängelt, sondern eine respektierte Kraft – die Critical Mass.

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Die Critical Mass ist für mich vor allem eins: großer Spaß.

Die Critical Mass ist für mich vor allem eins: großer Spaß. Eine Party auf Rädern. Ein Treffen Gleichgesinnter. Eine Rädermodenschau und -tauschbörse. Eine Feier der schönsten Fortbewegungsart der Welt. Des Lichts, der Nacht, des Rauschs, des Lebens. Und als schöner Nebeneffekt ein Protest gegen eine Verkehrspolitik, die Fußgänger und Radfahrer benachteiligt bis diskriminiert, eine Demonstration für mehr Radfahrer-Rechte, für grüne Radwege, mehr Rücksicht auf den Straßen, weniger Lärm und Abgase, autofreie Städte.

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Die kritische Masse ist, was deutsches Verkehrsrecht angeht, ab 16 Teilnehmern erreicht. Richtig gut wird’s aber erst bei etwa sechzig bis achtzig – dann fällt die Gruppe auf, stellt sich auf Seiten der Motorisierten Respekt ein, fährt man inmitten des Schwarms geborgen wie in Abrahams Schoß. Lächelnd, denn so eine Masse Radler um einen, verbunden durch dasselbe Ziel und dasselbe Glück empfindend, kann zaubern. Statt auf alles, was passieren könnte, zu lauern, entspanntes Plaudern, fröhliches Klingeln, reiner Genuss des Fahrens, Stärkegefühl.



So wie Fußgänger anders agieren, wenn sie in großer Zahl unterwegs sind, sich in dieselbe Richtung bewegen, entwickeln auch Radfahrer in der Gruppe ein anderes Selbstbewusstsein, was sich in dem von vielen deutschen CMs benutzten Slogan „Wir behindern nicht den Verkehr, wir sind Verkehr!“ ausdrückt. Anstatt sich auf holprige Radwege abdrängen zu lassen oder am Bordstein entlang zu kriechen, fährt man mitten auf der Fahrbahn, erhobenen Hauptes, die Ellbogen über den Lenker hinausgestreckt oder gar die Arme ausgebreitet. Und nimmt ein Stück dieser Haltung mit in den radfahrunfreundlicheren Alltag.

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In jedem Fall ist die Critical Mass eine unkomplizierte Form des Zusammenlebens – denn sie ist nicht angemeldet, nicht institutionalisiert, unhierarchisch.

Eine CM stellt die Frage, was denn eigentlich normal ist. Ist es das, was wir allzu oft als das Gegebene hinnehmen, oder vielleicht doch gerade das Gegenteil? In jedem Fall ist die Critical Mass eine unkomplizierte Form des Zusammenlebens – denn sie ist nicht angemeldet, nicht institutionalisiert, unhierarchisch. Es braucht nicht mehr als einen Treffpunkt und eine Uhrzeit, alles andere ergibt sich, durch Gemeinschaftssinn und spontane Absprache, von selbst. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, kann vorne, in der Mitte, hinten fahren, dazustoßen, seiner Wege ziehen. Durch das gemeinsame Radfahren entsteht, für eine begrenzte Zeit, in einem begrenzten Raum, eine kollektive Identität. Danach kann man süchtig werden!

Angefixt wurde ich eines Morgens um acht am Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg. So um die achtzig RadfahrerInnen mit allen Arten von Fahrrädern: Rennräder, Tourenräder, Hollandräder, Fixies. Auch ein Lastenfahrrad mit geheimnisvoller silberner Box war dabei. Als es losgehen sollte, fielen die ersten Tropfen, und dann kam der Regen. Aber er war warm und wurde, nach dem langen, langen Winter, freudig begrüßt. Dass einem Regen nicht immer nur eiskalt und scharf ins Gesicht schneiden, sondern auch weich die Wangen massieren kann, man hatte es fast vergessen. Und der wet look stand allen gut. Nasse Haarsträhnen über Stirn und Wangen. Strahlende Augen. Blitzende Zähne in lachenden Kapuzengesichtern.

Durch das gemeinsame Radfahren entsteht, für eine begrenzte Zeit, in einem begrenzten Raum, eine kollektive Identität. Danach kann man süchtig werden!

Wir fuhren an diesem Freitag im April, trotz des Regens, mehr als zwei Stunden. Alles ging glatt. Keine Polizei, kaum pöbelnde Autofahrer. Nur die Fußgänger überraschten mich. Sie riefen: „Es ist rot!“ Dann liefen sie mitten hinein in unsere Räder. So viel Mut, für das Recht auf Fortbewegung Haut und Knochen zu riskieren, hat selten ein Autofahrer bewiesen. Aber da beide Seiten weder Glas noch Metall voneinander trennte, konnten wir gleich erklären, worum’s ging – und neue Verbündete gewinnen. Am Ende, nach dem abschließenden Bike-Salut, bei dem uns noch mal ordentlich Regenwasser in die Jackenärmel lief, ging’s zum Vietnamesen, wo wir uns aufwärmten bei einer Nudelsuppe – und weitere Aktionen, Radtouren, Vernetzungsmöglichkeiten diskutierten. Denn trotz ihrer offenen, anarchistischen Form ist eine CM natürlich politisch, stellt sie doch die Frage, wem der öffentliche Raum gehört, gehören sollte, wie er besser, gerechter genutzt werden kann. Es geht also weit übers Radfahren hinaus. Ich bin nicht mehr skeptisch gegenüber allen Massenveranstaltungen.

Die ganze Geschichte gibt es im fahrstil-Magazin Nummer 11 hier zu bestellen.