Ein Gastbeitrag von der Autorin Beatrix Novy.

Über Verkehrsteilnehmer und die mögliche Beendigung eines Kriegszustandes

Die Gegenwart ist im Strom der Zeit ein erhöhter Posten, von dem aus wir Zeitgenossen die Vergangenheit als Erleuchtete betrachten können. Da tun sich alle ein bisschen schwer, die erstaunliche Rückständigkeit vergangener Verhältnisse zu begreifen. Wie, Frauen im 19. Jahrhundert zogen sich lieber eine gequetschte Leber zu als ohne Korsett zu gehen? Grotesk. Wie, Männer mussten sich duellieren und sterben wegen Lappalien? Idiotisch. Kinder wurden geprügelt, ist das wahr? Und das ununterbrochene Anzünden von Zigaretten, realistisch zu sehen in Filmen der 60er Jahre, kommt einem jetzt auch schon exotisch vor.

Wer in die Vergangenheit blickt, kommt nicht umhin, die Gegenwart als historisch, mithin als Gewordenes und immerfort Werdendes zu begreifen. Man kann sich also vorstellen, wie die Menschen in 100 Jahren sich über uns wundern werden. Etwa so: Stimmt das wirklich, dass damals Straßen und Plätze vollgestellt waren mit Autos? Große Blechteile, wohin man schaute? Kaum ein Fleck ohne?? Und die meisten sollen nur herumgestanden haben, auf gehüteten Parkplätzen oder im Stau. Nicht zu fassen.

Ja, das werden sie sagen. Aber es gibt immer mehr Leute, die wollen es jetzt schon nicht mehr fassen. Nicht dass die Verkehrswende vor der Tür stünde; aber es bewegt sich doch einiges. Fahrradboom, Car Sharing, innovative Stadtplanungskonzepte; und dann der Gesinnungswandel in den großen Autokonzernen! Wenn das Mercedes Guggenheim Lab sich laut fürs Fahrrad einsetzt; wenn die Audi Urban Initiative ihren Architektenpreis an eine Planerin vergibt, die vom teurer werdenden öffentlichen Raum spricht, von der Notwendigkeit des Teilens, und die folgendes verkündet: „In einigen Jahren wird das eigene Auto in großen Städten eine Ausnahme sein“ – dann kann das, wer will, noch unter Imagepflege oder Greenwashing abhaken. Wenn Daimler in Stuttgart zusammen mit der Stadt ein komfortables Carsharingmodell mit Elektromobilen auf die Beine stellt, sind die Motive sicher auch nicht ungemischt grün; schließlich rückt die Jugend in letzter Zeit beunruhigend ab vom Wunschziel Auto, da kann es nicht schaden, wenn die junge Klientel beim Carsharen das eigene Produkt kennenlernt und nicht das der Konkurrenz. Aber Motive hin oder her: wenn Autohersteller sich zu Mobilitätsversorgern wandeln, mit verschiedenen Angeboten im Gepäck, dann sind diese Angebote nicht mehr marginal.

Der rücksichtslose Radler ist derselbe Typ wie der am Steuer.

Zwar offenbaren andere Produktlinien der Autohersteller, SUVs zum Beispiel, dass die banale Einsicht von der Begrenztheit der Erdoberfläche immer noch heroisch verdrängt wird. Aber Kulturkämpfe gehören zum Fortschritt dazu. Es gibt mittlerweile genug Ansätze, die den Blick öffnen auf eine Erneuerung der Städte, nachdem die sich über ein Jahrhundert hinweg nach und nach dem Individualverkehr ausgeliefert haben. Dem Auto sollen weder seine Existenz noch seine historischen Meriten abgesprochen werden, wohl aber sein räumlicher und ideologischer Primat. Die sichtbarste Herausforderung der Verhältnisse ist der Radfahrer / die Radfahrerin. Seit diese Spezies nicht mehr vereinzelt und schüchtern an die Gehsteigkante gedrückt auftritt, gibt es Verwerfungen im allgemeinen Stimmungsbild, die mit schöner Regelmäßigkeit und vorzugsweise zur Saure-Gurken-Zeit in sogenannte Debatten um „Fahrradrambos“ bzw. „Kampfradler“ münden. Da fokussiert eine eifrig lancierte Wahrnehmungsstörung den Blick auf den unangenehmen Radler, der über den Bürgersteig brettert, während der unangenehme Automobilist auf der Fahrbahn gerade dasselbe in Grün macht und gleichzeitig 15 brave Radfahrer vor der Ampel stehen. Tatsache ist: der rücksichtslose Radler ist derselbe Typ, vielleicht sogar derselbe Mensch wie der am Steuer, gerichtet gegen eine imaginierte Ideologie besserwisserischer grüner Spießer, die ihre Weltretterattitüde rasend und klingelnd ausleben, wird das Radlerbashing selbst zur Ideologie. Im Kampf gegen die Bobos dieser Welt regt man sich über Zweiradrambos ebenso auf wie über frech geparkte Kinderwagen auf eng besetzten Bürgersteigen, von denen zwei Drittel eh schon fehlen: da stehen die Autos. Oft sogar legal.

Ja, auch das Auto hat sich sein Vorrecht auf den Straßen mühsam durch viele kleine Regelübertretungen erkämpft. Vieles ist immer noch verboten, aber wen schert Tempo 80 in der Stadt, wenn die Ausfallstraße so schön breit ist? Wenn Radfahrer als Störung empfunden werden, ist das deshalb kein Wunder, weil weder Infrastruktur noch Regeln auf einen Radverkehr wirklich ausgelegt sind. Allzu lange hieß Verkehrsplanung: Planung für flüssigen Autoverkehr. Der schäbige Rest war für die anderen. Das wurde akzeptiert, solange der Fortschritt marschierte und die Rolle des Autofahrers – jeder ist ja auch Fußgänger – als die attraktivste galt. Als die Unwirtlichkeit unserer Städte auffiel, war es dann anstrengend genug, ein bisschen Platz und Respekt für die Fußgänger herauszuschlagen. Die durften später mit den Radfahrern um die Fußgängerzone rangeln.



Heute müssen sich Politik und Planung mit einem stetig zunehmenden Radverkehr befassen und tun es auch; im letzten Jahr stellte die Bundesregierung den Nationalen Radverkehrsplan vor. Drei Millionen jährlich gibt es dafür, das klingt nicht viel und soll auch noch hauptsächlich von den Kommunen bezahlt werden, während der Bund in seinem Zuständigkeitsbereich die Mittel für den Radwegebau zurückfuhr. Das passt zu einem Verkehrsminister, der ohne Not das Gezeter über Radrambos um den Begriff Kampfradler bereicherte. Zukunftsfähige Konzepte sind von dort nicht zu erwarten. Die wären auch eine kompliziertere Aufgabe: „Radverkehr darf nicht isoliert betrachtet werden“, schrieb die Internet-Zeitschrift German Architects, „ihn konsequent einzubinden, stellt weitreichende Aufgaben an Designer, Architekten und Stadtplaner“.

Was das betrifft, sind andere schon weiter. Das sind vor allem die Vorzeigestädte Kopenhagen und Amsterdam mit ihren breiten Radstraßen, eigenen Ampelschaltungen, komfortablen Überwegen und, ganz wichtig, Abstellplätzen – alles gemacht, um ganz viele Räder möglichst reibungslos ins Geschehen und ins Stadtbild zu integrieren. Beim Neubau des Rijksmuseums in Amsterdam wurde ein Radtunnel mitgeplant, Malmö wartet mit Pump- und Parkstationen für Räder auf. Auch wenn nicht jede Maßnahme unumstritten ist, können Leute aus Städten, in denen handtuchbreite Radwege zwischendurch immer wieder im Nichts enden, nur neidisch werden.

Selbst im Auto-Land USA gibt es vermehrt Bemühungen, das Fahrrad zu stärken.

Auf die nordeuropäischen Vorbilder schauen inzwischen viele: Bei einem Radverkehrskongress im Frühjahr fanden sich über 1000 Verkehrsplaner, Stadtforscher und Aktivisten aus allen Teilen der Welt ein. Sogar aus den USA, wo übrigens um 1900 die ersten glattgängigen Straßen auf Druck der Fahrradlobby gebaut wurden, das ist lange her, und doch, kaum zu glauben, hört man selbst in L.A. von Bemühungen, das Fahrrad zu stärken. New York, auch eine mittlerweile vom Fahrrad veränderte Stadt, bringt seit 2009 mit einem zweispurigen abgetrennten Radweg Pendler aus den Wohnvierteln zur Manhattan Bridge. Auch Lateinamerika und Asien warten mit Musterbeispielen auf. Bogotá in Kolumbien, früher eine einzige No-go-Area, hat sich nicht zuletzt dank seiner Verkehrsplanung aufgerappelt: mit einer vielfach verbesserten städtischen Infrastruktur veränderte Bürgermeister Enrique Penalosa auch Mentalitäten. Neben Parks, Sport- und Spielplätzen investierte er in den öffentlichen Nahverkehr und in gut ausgebaute Radwege; die unasphaltierten Autostraßen ließ er warten. Selbst im autokaufenden China gibt es Trendverweigerer: Während Peking sich in kürzester Zeit von der totalen Rad- zur totalen Autostadt gewandelt hat, verbindet Guangzhou eine riesige Leihradflotte mit einem Schnellbussystem.

Dennoch, global legt das Auto zu, was die verkehrspolitische Läuterung der Autokonzerne in Europa zwiespältig erscheinen lässt: Was sie hier an Carsharing und Elektromobile abgeben, holen sie in den boomenden Schwellenländern wieder rein. Was aber gerade dort der einseitige Trend zum Auto anrichten kann, zeigt die großzügig von x-spurigen Stadtautobahnen durchzogene und quasi ÖPNV-freie indonesische Hauptstadt Jakarta: Ab 10 Uhr morgens bewegt sich hier nichts mehr. 4 – 6 Stunden dauert es, um egal wohin zu kommen. Nehmen Sie sich also in Jakarta nie mehr als einen Termin pro Tag vor. Und ans Radfahren brauchen Sie gar nicht erst zu denken.

Keine Bußgelder für Radfahrer in einem System, das auf das Automobil ausgelegt ist.

Kürzlich forderte in der Zeitschrift Atlantic ein amerikanischer Journalist, Radfahrern keine Bußgelder aufzuerlegen. Einzig rüpelhaftes Benehmen solle bestraft werden, nicht das Umgehen von Regeln, die für das Automobil geschaffen wurden. Das rechtfertige sich von selbst in einem System, das die einen bevorzugt und die anderen, zudem physisch Schwächeren, benachteiligt. Hinzu komme das Gefühl, Besseres verdient zu haben, weil man weniger Platz einnimmt, weniger gefährlich ist und das Gesundheitssystem langfristig weniger Geld kostet – die Krankenkassen haben zum Thema körperliche Aktivität viele Studien machen lassen, aber was nützt das. Alltagsaktivität wäre ja die einfachste Lösung, also Laufen und Radfahren, nur erfordert das im Straßenverkehr soviel Mut. Deshalb fahren ja besorgte Eltern ihre Kinder vors Schultor, mit dem Auto, damit sie nicht von anderen Autos überfahren werden. Zu dieser allgemeinen Entmutigung gibt es eine Alternative, und die erfordert auch Mut: die Verfügung über die Straße muss neu verhandelt werden, um einen städtischen Raum zu schaffen, der es leicht und attraktiv macht, physische Aktion in die Fortbewegung mit einzubeziehen. Das Shared-Space-Konzept ist seit den 90er Jahren dabei, diese Utopie hier und da in Realität umzusetzen: kleine Areale, ungeregelte Kreuzungen, an denen sich alle Verkehrsteilnehmer, ob mit oder ohne fahrbaren Untersatz, untereinander verständigen müssen. Auch planerische Annäherungen an shared space, also Verkehrsberuhigung oder für den Radverkehr geöffnete Einbahnstraßen, reichen schon aus, um das falsche Sicherheitsgefühl, das besonders im hochgeregelten und schilderfreundlichen Deutschland mehr Unheil als Sicherheit einbringt, zu ersetzen: durch Vorsicht, Rücksicht und Blickkontakt. Wo jeder auf sich und andere aufpassen musst, macht sich Tempo 30 von allein.

Die zweite Ära der Mobilität: die feinjustierte, logistisch vernetze, vielfältige Mobilität fängt klein an. Aber ein paar erste Schritte auf dem Weg zur bewohnergerechten Stadt – vom Land wäre auch noch zu reden – sind schon getan. Mit Radschnellwegen für Pendler, verkehrsgemischten Straßen, verbesserten Leihfahrrad- und Leihautosystemen. Es ist zum optimistisch werden… Und dann der Slogan dieser Carsharing-Firma: „Runter vom Sattel. Rein ins Auto“. Nun ja. Zu früh gefreut.



Beatrix Novy, geboren 1950, Autorin und Rundfunk-Moderatorin in Köln. Sie schreibt im Besonderen über Themen der Alltagskultur, Stadtentwicklung und Kulturgeschichte und berichtet aus ihrer zweiten Heimat Wien, wenn sie sich dort aufhält. (Bild via pixabay)